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Gesinnungsethik und Verantwortungsethik: Warum das politische Personal immer wieder gern Max Weber zitiert

Dirk Kaesler, 17 December 2020

Es war ein guter journalistischer Einfall. Anstelle eines gelehrten Artikels zur hundertsten Wiederkehr des Todestages von Max Weber am 14. Juni 2020 drückte der SPIEGEL-Redakteur Dirk Kurbjuweit dem derzeitigen deutschen Vizekanzler Olaf Scholz die Reclam-Ausgabe eines der berühmtesten Texte des deutschen Sozialwissenschaftlers in die Hand: „Politik als Beruf“.

Olaf Scholz liest Webers „Politik als Beruf“. Für das Interview im SPIEGEL hat ihn Peter Rigaud fotografiert. © Peter Rigaud.

Scholz habe, so berichtete der Artikel, diesen Text das erste Mal in Studentenzeiten gelesen und nun – „auf Bitten des SPIEGEL“ – ein zweites Mal. Die verordnete Lektüre verführte wohl ein wenig zum oberflächlichen Lesen, denn die Reportage macht deutlich, dass der zweimalige Weber-Leser Scholz etwas missverstanden hat. Damit ist er nicht alleine, denn auch der Journalist Kurbjuweit hat nicht genau gelesen, wenn er behauptet, dass Weber ein entschiedenes Entweder-Oder zwischen einem „Gesinnungsethiker“ und einem „Verantwortungsethiker“ ausgemacht habe. Und dass man beides keinesfalls verbinden könne.

Doch, meine Herren: Nicht nur, dass man das kann, wenn man Weber gründlich liest. Man muss sogar!

Lassen Sie uns die Dinge klären: In seinem Essay über „Politik als Beruf“ traf Max Weber tatsächlich erstmals ausführlich die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.

Der Essay ist die erheblich erweiterte schriftliche Fassung eines mündlichen Vortrags, den Weber am 28. Januar 1919 in München hielt. Ort und Datum machen deutlich, in welcher Situation Weber diese Rede hielt: im revolutionär aufgewühlten Zentrum der Bayerischen Räterepublik. In einer solchen Situation vor insbesondere jungen Menschen über Politik zu reden, war keine akademische Vorlesung. Auch noch die Druckfassung dokumentiert eine sehr persönliche Positionierung ihres Verfassers: „Jetzt ist infolge des gewaltigen Zusammenbruchs, den man Revolution zu nennen pflegt, vielleicht eine Umwandlung im Gange.“

Man muss diesen Kontext mitbedenken, um den Text umfassend zu verstehen. Ich kann nur empfehlen, den Text einmal als Ganzes zu lesen. Ich zitiere hier nach der wissenschaftlich ausschlaggebenden Fassung (Max Weber-Gesamtausgabe Bd. I/17, S. 157–252). Es gibt den Text auch als gelbes Reclam-Heftchen mit einem sehr lesenswerten Nachwort von Ralf Dahrendorf. Diese Ausgabe war es, die dem Sozialdemokraten Scholz in die Hand gedrückt wurde, als ihn der österreichische Fotograf Peter Rigaud ablichtete.

Ich zitiere auszugsweise die hier zentral einschlägigen Passagen, um Webers Position in Sachen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu verdeutlichen:

„Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –: ‚der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“

„Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ‚heiligt‘.“

„Auch die alten Christen wußten sehr genau, daß die Welt von Dämonen regiert sei, und daß, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einläßt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt, und daß für sein Handeln es nicht wahr ist: daß aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil. Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind.“

„Wahrlich: Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit dem Kopf gemacht. Darin haben die Gesinnungsethiker durchaus recht. Ob man aber als Gesinnungsethiker oder als Verantwortungsethiker handeln soll, und wann das eine und das andere, darüber kann man niemandem Vorschriften machen. Nur eins kann man sagen: wenn jetzt in diesen Zeiten einer, wie Sie glauben, nicht ‚sterilen‘ Aufgeregtheit – aber Aufgeregtheit ist eben doch und durchaus nicht immer echte Leidenschaft –, wenn da plötzlich die Gesinnungspolitiker massenhaft in das Kraut schießen mit der Parole: ‚die Welt ist dumm und gemein, nicht ich, die Verantwortung für die Folgen trifft nicht mich, sondern die anderen, in deren Dienst ich arbeite, und deren Dummheit oder Gemeinheit ich ausrotten werde‘, so sage ich offen: daß ich zunächst einmal nach dem Maße des inneren Schwergewichts frage, das hinter dieser Gesinnungsethik steht, und den Eindruck habe: daß ich es in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen.“

„Unaustragbar gegensätzliche Maxime“, „abgrundtiefer Gegensatz“: das klingt tatsächlich nach prinzipieller Unvereinbarkeit. So wie Scholz und Kurbjuweit es gelesen und verstanden haben. Wer jedoch weiterliest, stößt auf diesen entscheidenden Satz: „Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann.“

Nimmt man Webers Charakterisierung der reinen Gesinnungsethiker, die sich in keiner Weise um die Folgen ihres politischen Handelns scheren, so sollte man als Prototyp an den ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Kurt Eisner, denken. Dieser zentrale Protagonist der USPD und Anführer der „Arbeiter- und Soldatenräte“ in Bayern verkörperte für Weber genau jenen Politikertypus, an dem er die Gefahren rein gesinnungsethischen Handelns aufzeigen wollte. Für Weber hatte Eisner – und viele andere um ihn herum – nicht den „Beruf“ zur Politik.

Aus dem Stichwortmanuskript Max Webers für „Politik als Beruf“, Privatsammlung Heribert Tenschert, Bibermühle.

Gerne beziehen sich heutige Politiker auf diese angebliche Dichotomie zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik und reklamieren für sich die Verantwortungsethik. So auch Olaf Scholz, der kurz nach diesem Interview zum Kanzlerkandidaten seiner Partei nominiert wurde. Dem SPIEGEL gegenüber monierte er den – angeblichen – „abgrundtiefen“ Gegensatz und setzte dagegen: „Auch wenn ich mich als Verantwortungsethiker bezeichnen würde, stört mich, wie dieses Wort heute manchmal verwendet wird; als Ausrede dafür, nichts zu wollen. So kann sich auch der bequeme Nichtstuer als Verantwortungsethiker adeln…Was ich schwierig finde, ist das Verächtlichmachen der Gesinnungsethiker. Das sage ich als Verantwortungsethiker.“ Der SPIEGEL notierte: „Er lacht.“

Mit dieser salomonischen Auflösung kommt Scholz der ureigenen Position Max Webers durchaus nahe. Müsste man nämlich beantworten, nach welchen Prinzipien Weber selbst gelebt und gehandelt hat, so kommt man zum Urteil, dass Weber selbst Zeit seines Lebens zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik hin- und herschwankte: Seine politischen Positionen waren stark geprägt von beidem. Neben einem radikalen gesinnungsethischen Nationalismus finden sich stark abwägende Argumente des verantwortungsethischen Handelns. Ebenso im sehr persönlichen Leben, in seinen Beziehungen zu anderen Menschen sehen wir bei Max Weber ein heftiges Schwanken zwischen rücksichtslosem Vorgehen und einer zarten, einfühlsamen Übernahme von Verantwortung für andere.

Insgesamt wird man sagen müssen, dass Weber Zeit seines Lebens jener Parole zu folgen versucht hat, mit der er seine andere, ebenfalls sehr berühmte Rede über „Wissenschaft als Beruf“ aus dem Jahr 1917 abschloss: „Daraus wollen wir die Lehre ziehen: daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der ‚Forderung des Tages‘ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“

Bemerkenswerterweise haben Kurbjuweit und Scholz sich nicht nur um den vermeintlich „abgrundtiefen“ Gegensatz gekümmert (ohne auf dessen prinzipielle Verbindbarkeit zu achten). Sie sind auch auf die klassischen Weber-Themen wie Charisma, Macht und Führung, Beruf und Berufung zu sprechen gekommen. Aber ein Motiv aus „Politik als Beruf“ haben beide übersprungen, das jedoch für Weber von erheblicher Bedeutung war: die persönliche Eitelkeit bei der Übernahme von Führungsverantwortung – Scholz bevorzugt „Leadership“ – durch Politiker und Politikerinnen.

Dabei ist doch gerade die Eitelkeit der politisch handelnden Personen ein sehr zentrales und sehr häufig behandeltes Thema in Max Webers Ausführungen über Politik, wobei er diese Charaktereigenschaft vor allem den Mitgliedern der damals in Deutschland herrschenden Aristokratie zurechnet, Kaiser Wilhelm II. allen voran. Jedenfalls sieht Weber Eitelkeit geradezu als eine Eigenschaft von Menschen, die untrennbar mit Herrschaftsausübung verbunden ist. Nehmen wir allein seine Anmerkungen erneut aus „Politik als Beruf“:

„Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz, sich selbst gegenüber. Eitelkeit ist eine sehr verbreitete Eigenschaft, und vielleicht ist niemand ganz frei davon. Und in akademischen und Gelehrtenkreisen ist sie eine Art von Berufskrankheit. Aber gerade beim Gelehrten ist sie, so antipathisch sie sich äußern mag, relativ harmlos in dem Sinn: daß sie in aller Regel den wissenschaftlichen Betrieb nicht stört. Ganz anders beim Politiker. Er arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. ‚Machtinstinkt‘ – wie man sich auszudrücken pflegt – gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten. – Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der ‚Sache‘ zu treten.“

Spiegelt man die Frage nach persönlicher Eitelkeit als Movens menschlichen Handelns auf Max Weber selbst zurück, so ist es ohne Übertreibung gerechtfertigt, auch ihm selbst eine nicht unerhebliche Portion dieser Eigenschaft zuzuschreiben. Wie er selbst sagt, Eitelkeit war – und ist – in akademischen Kreisen „eine Art von Berufskrankheit“, damals wie heute! Aber, im Vergleich zur Eitelkeit beim politischen Personal, sei sie relativ harmlos. Bei Menschen in politischer Verantwortung – und je größer diese Verantwortung ist, umso mehr – kann persönliche Eitelkeit erheblich gefährlich sein. Wir können das täglich am politischen Geschehen in Deutschland und außerhalb Deutschlands ablesen.

Gesetzt den Fall, dass persönliche Eitelkeit beim politischen Personal in besonderer Weise gefährlich sei, so stellt sich umso dringlicher die Frage, nach welchen legitimen Zielen und Zwecken politisches Führungshandeln sich ausrichten soll? Weber unterscheidet bekanntlich drei Formen legitimer Herrschaft: legal-bürokratisch-rationale Herrschaft, traditionale Herrschaft, charismatische Herrschaft. Alle drei Idealtypen legitimer Herrschaft haben ihre eigenen Formen der Herrschaftsausübung, des Herrschaftsapparats und des Herrschaftsinhabers.

Es ist hier nicht der Ort, eine längere Abhandlung der „Herrschaftssoziologie“ Max Webers auszubreiten. Der Teilband 4 des (ehemaligen) Hauptwerkes „Wirtschaft und Gesellschaft“ unter der Überschrift „Herrschaft“ führt auf fast 1000 Seiten das politische Führen in den Formen des Bürokratismus, Patrimonialismus, Feudalismus und Charismatismus aus. (MWG Bd. I/22-4)

Alle diese Formen haben ihre eigene Legitimität, und damit auch ihre sehr eigenen Ziele und Zwecke, an denen sich das Handeln politischer Führung ausrichtet. Banal und abgekürzt lässt sich sagen: Es hängt ganz davon ab, in welcher konkreten Situation wer und wodurch das politische Führungspersonal und zu welchen Zielen legitimiert ist.

Weber hat vor allem der protestantischen Ethik bei der Entstehung des modernen, rationalen Betriebs-Kapitalismus eine wichtige Bedeutung eingeräumt. Es stellt sich entsprechend die Frage, welche Bedeutung die protestantische Ethik im Führungsverhalten des preußisch geprägten deutschen Reiches zu seinen Lebzeiten gehabt hat. Und welche Nachwirkungen möglicherweise auch heute noch erkennbar sind, in einem weitgehend säkularisierten Deutschland.

Max Weber hat sich in den ersten Fassungen seiner einschlägigen Aufsätze aus den Jahren 1904/05 nicht primär auf die USA bezogen, sondern insbesondere auf Deutschland, Frankreich und Großbritannien, auf den europäischen Calvinismus und Protestantismus. Seine illustrativen Verweise auf die USA fußten noch nicht auf eigener Erfahrung; seine Aufsätze waren bereits gedruckt, als er im Herbst 1904 monatelang durch die USA reiste. Erst im Anschluss an diese Reise und durch die dabei gewonnenen Eindrücke bezog er sich immer stärker auf den amerikanischen Kapitalismus und das US-amerikanische politische System, von denen er jedoch glaubte, dass sie sich zunehmend „europäisieren“ würden.

Für Weber spielte die protestantische Ethik vor allem eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens und nicht so sehr bei der des politischen Führungsverhaltens. Der deutsche Kulturprotestantismus und die enge Verknüpfung der lutherisch-reformierten, „unierten“ Kirche mit dem preußisch-aristokratischen Herrschaftssystem waren für diesen klassenbewussten Bürger das Gegenteil dessen, was er sich für das Deutsche Reich, dessen Parlamentarisierung und dessen politische Führung ersehnte. Das deutsche Bürgertum, eingeklemmt zwischen konservativ-reaktionärer Aristokratie und sozialistischer Arbeiterbewegung, geprägt von liberalen Ideen, hätte seiner festen Überzeugung nach die Herrschaft in Deutschland erringen sollen. Doch daraus wurde nichts. Eine solche Führungsfigur wäre für Weber allenfalls der Pastor Friedrich Naumann gewesen, während weder Wilhelm II. noch Bismarck, aber eben auch nicht Ferdinand Lassalle oder Friedrich Ebert diesem Leitbild entsprochen haben. Die protestantische Ausrichtung eines solcherart imaginierten Staatsgefüges spielte für den politisch denkenden Weber nur eine untergeordnete Rolle.

In welcher Weise diese Überlegungen von Max Weber von der Verantwortung im politischen Handeln auf die Führung von Institutionen und Unternehmen im Jahr 2020 übertragbar sind, ist unzweifelhaft des Nachdenkens wert. Welche Bedeutung haben Webers Überlegungen zu Führung und Verantwortung 100 Jahre nach seinem Tod? Lässt sich am Beispiel der protestantisch geprägten Kanzlerin Angela Merkel oder am Beispiel von ausgewählten Institutionen und ihrem Führungsteam zeigen, wie die Vorstellungen Webers in der Realität umgesetzt werden können? Gibt es gar eine Renaissance dieser Vorstellungen?

Betrachten wir allein die sehr divergenten politischen Reaktionen auf die weltweite Covid 19-Pandemie: Wie in einem Lackmustest lässt sich ablesen, wie das Verhältnis von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik in der jeweiligen nationalen und lokalen Politik von konkret handelnden Personen austariert wird.

Wir sehen Verantwortungsethiker, die sich an der Sache orientieren und pragmatische Lösungen suchen, sie nutzen dabei wissenschaftliche Kompetenz als Entscheidungsgrundlage. Genau auf diese Weise sollte nach Webers Vorstellung verantwortungsvolle Politik gestaltet werden. Die derzeitige Bundeskanzlerin zeigte – Weber zufolge – das genau richtige Maß an Verantwortungsethik auf naturwissenschaftlicher Grundlage. In der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015/2016 war es hingegen die von ihr angestrebte Gesinnungsethik, die die Einreise von über einer Million Flüchtlingen, Migranten und anderen Schutzsuchenden zuließ. Die Kanzlerin verkörperte auf beiden Feldern gleichsam das Webersche Idealbild des politisch Handelnden. Welche Seite des Dipols Verantwortungsethik und Gesinnungsethik das stärkere Gewicht bekommt, hängt von der jeweiligen Situation und ihrer Wahrnehmung ab.

Daneben beobachten wir reine Gesinnungsethiker, die für die Erreichung der von ihnen als „gut“ eingeschätzten Zwecke sittlich bedenkliche und gefährliche Mittel einsetzen, wobei übelste Neben-„Erfolge“ in Kauf genommen werden, wenn es nur der erhofften Wiederwahl dient. Wer auf die USA und Brasilien, nach Ungarn und Österreich, ja selbst auf das (noch) Vereinigte Königreich schaut, kann das erkennen. Die Kombination aus Machtgier und Eitelkeit nimmt viele Todesopfer billigend in Kauf, die vermieden werden könnten. Solche Menschen in politischen Führungspositionen nennen ihre Politik dann „Realpolitik“, meinen aber gewissenlose Ideologie, die sich als Gesinnungsethik tarnt.

Die Ausführungen Max Webers über das notwendige Zusammenwirken von Verantwortungs- und Gesinnungsethik sind nach meiner Einschätzung auch heute noch von prinzipieller Gültigkeit und Bedeutung für praktische Politik. Entwickelt man aus dem gesamten Text der famosen Rede über „Politik als Beruf“ das „Phantombild“ eines idealen – und weniger eines idealtypischen – Politikers, so ist es m.E. nach irrelevant, ob die aktuellen und künftigen Politikerinnen und Politiker eine protestantische, katholische, jüdische, islamische, sozialistische oder humanistische „Prägung“ in die praktische Politik mitbringen. Gerade Webers Freundschaft zu Friedrich Naumann und seine Begleitung dieses protestantischen Pastors in Partei- und Tagespolitik ließen ihn erkennen, dass mit einem zu großen Anteil von Gesinnungsethik nicht leicht praktische Politik zu machen ist. Der Sohn eines erfolgreichen und eher freidenkerischen Berufspolitikers wusste mehr über praktische Politik als idealistisch gesinnte Pastoren aristokratischer oder bürgerlicher Herkunft.

Es gibt nicht gerade viele Menschen, die über gleichermaßen viel Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein verfügen, wie Max Weber es skizzierte. Doch von genau diesen würde ich mir wünschen, dass sie in die praktische Politik gehen. Natürlich gehört auch eine gehörige Portion Selbstbewusstsein und ein gesundes Maß an Selbstdarstellungsbedürfnis dazu, um dem Bild eines idealen Politikers zu entsprechen.

Auch davon spricht die Abhandlung „Politik als Beruf“, von der Ralf Dahrendorf schrieb: „Es gibt ja nicht gerade viele lesbare Anleitungen zum Beruf der Politik; unter ihnen ragt die von Max Weber hervor.“ Unabhängig also davon, auf welcher Ebene des politischen Geschehens Menschen wirken wollen – von der kleinen Ortsgemeinde bis hin zu internationaler Weltpolitik –, sie sollten diesen über hundert Jahre alten Text gründlich studieren. Es ist gut zu wissen, dass dieser kleine Text in alle Kultursprachen dieser Welt übersetzt worden ist. Nun gilt es, ihn nur noch richtig zu lesen. Und ihn zu beherzigen, wenn sie den Beruf der Politikerin oder des Politikers zu ihrer Berufung machen wollen.

Dirk Kaesler, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik: Warum das politische Personal immer wieder gern Max Weber zitiert, CAS LMU Blog, 17 December 2020, https://doi.org/10.5282/cas-blog/13
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