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Mitgefühl und die Politik des „Nie Wieder“: Ist politisches Leid vergleichbar?

Natan Sznaider, 25 January 2023

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ So forderte Theodor Adorno 1966 in seiner Rundfunkrede „Erziehung nach Auschwitz“. Hier wird eine neue Ethik gefordert: Die Ethik des NIE WIEDER. Aber wie genau soll so eine Ethik funktionieren und wie können wir sie auch soziologisch verstehen?1

Ich möchte mit einer kleinen Geschichte beginnen, die im Kern eigentlich alles enthält, worum es bei der Ethik des Nie Wieder eigentlich geht. Es handelt sich um einen Briefwechsel. Die Partner in dieser sehr kurzen Korrespondenz sind Hannah Arendt und Hans Magnus Enzensberger. Nachdem Arendts Buch Eichmann in Jerusalem 1964 – auch in diesem Buch geht es um die Ethik des Nie Wieder – ins Deutsche übersetzt wurde, nahmen sich viele junge Intellektuelle (darunter auch Enzensberger) Arendts Ansatz als eine Konstruktion, mit der sie glaubten, arbeiten zu können. Der Begriff der „Banalität des Bösen“ wurde zum Inbegriff einer universellen Sichtweise auf die Täter, die bis zum heutigen Tag nachwirkt. Es geht um ein allgemeines Verständnis der Vergangenheit – das verallgemeinerte „Nie Wieder“.

Hannah Arendt auf dem 1. Kulturkritikerkongress im Jahr 1958.
Foto: Barbara Niggl Radloff
Quelle: Wikimedia Commons

Der kurze Briefwechsel zwischen Arendt und Enzensberger vom Januar 1965 stellte in gewisser Weise die Weichen für die bis heute bestimmende Epistemologie. Hans Magnus Enzensberger war damals gerade 35 Jahre, Arendt schon ein wenig älter, knapp 60. Es war also nicht nur ein Briefwechsel zwischen einer Jüdin und einem Deutschen, einer nach Amerika geflohenen Jüdin und einem im Nachkriegsdeutschland aufgewachsenen Deutschen, sondern auch ein Briefwechsel zwischen den Generationen – und auch zwischen den Geschlechtern, wenn man so will. Enzensberger gehörte einer Generation an, die sich aus dem deutschen Nationalismus zu lösen versuchte und dies oft über einen links-liberalen, transnationalen, moralischen Universalismus versuchte. Auch das wirft Licht auf die Debatten von heute.

Hans Magnus Enzensberger veröffentlichte zu dieser Zeit eine Essaysammlung mit dem Titel Politik und Verbrechen. Der Band enthält auch einen Essay über den Eichmannprozess: Reflexionen über den Glaskasten. Der Essay trägt scheinbar Arendts Handschrift. Wie viele andere Leser auch, sah Enzensberger in Arendts Interpretation von Adolf Eichmann den Prototypen eines Schreibtischtäters, der immer und überall existieren kann. In erster Linie wird hier verglichen aber nicht unterschieden. Die Angst vor dem nuklearen Holocaust („Nie Wieder Hiroshima“) wird hier von Auschwitz abgeleitet. In Enzensbergers Interpretation wird nicht nur dasselbe Wort Holocaust für die nukleare Katastrophe benannt, sondern der Text folgt auch denselben argumentativen Mechanismen. Entsprechend denken wir heute an die Debatten um den Vergleich zwischen Holocaust und Kolonialismus. Der Holocaust wird seiner deutschen und jüdischen Besonderheit beraubt und der Unbesonderheit eines allgemeinen Begriffs der Moderne untergeordnet.

Die Debatte, ob der Holocaust vergleichbar sei, ist natürlich nie zum Ende gekommen und reicht eben bis ins Heute. Es geht also um historische Urteilskraft. In dieser Hinsicht – so möchte ich hier zeigen – ist dieser vor 57 Jahren gehaltene Austausch eine Art Vorläufer von Debatten, die an Aktualität nichts eingebüßt haben. Arendt sollte Enzensbergers Buch für die Zeitschrift Merkur besprechen und weigerte sich. Sie verwehrte sich der negativen Einvernehmung von Auschwitz durch die Neue Linke, die sie öfter auch als „Felix Culpa“ (das Glück der Schuld) bezeichnete. Sie warf Enzensberger eine hochkultivierte Form des Eskapismus vor, monierte vor allen Dingen jedoch seine Formel, nach der alle schuldig seien, was aus ihrer Sicht jedoch nur dazu führe, dass keiner wirklich schuldig ist:

Gerade das Spezifische und Partikulare ist wieder in der Sauce des Allgemeinen untergegangen. Wenn ein Deutscher das schreibt, ist es bedenklich. Es heißt: nicht unsere Väter, sondern alle Menschen haben das Unglück angerichtet. Was einfach nicht wahr ist. Außerdem, und gerade in Deutschland verbreitet und gefährlich: wenn Auschwitz die Konsequenz aller Politik ist, dann müssen wir ja noch dankbar sein, dass endlich einer die Konsequenzen gezogen hat. Oh, Felix Culpa.

Am 24.1.1965 antwortete Enzensberger. Er versuchte seinen Standpunkt Arendt gegenüber zu verteidigen. Er war offensichtlich überrascht, dass sie seine Ansicht nicht teilte. Er verteidigte die Legitimation der Vergleichbarkeit mit folgenden Worten:

Ich wähle diesen Vergleich nicht von ungefähr. Denn wenn ich, und sei’s mit den unzulänglichen Mitteln eines Menschen, der weder Anthropologe noch Historiker ist, über die Vorgeschichte von Auschwitz nachdenke, so tue ich’s im Hinblick auf seine Zukunft. Die Endlösung von gestern ist nicht verhindert worden. Die Endlösung von morgen kann verhindert werden.

Enzensberger ist aber weder bereit, die Partikularität der Judenvernichtung zu akzeptieren, noch die Tatsache, dass es bedenklich ist, so etwas als Deutscher zu sagen. Und ich zitiere weiter:

Erlauben sie mir, bitte, zum Schluss noch eine Bemerkung zu ihrem Satz „Wenn ein Deutscher das schreibt, ist es bedenklich."

Und Enzensberger fragt Arendt, ob denn die Richtigkeit eines Satzes von der Nationalität desjenigen abhängt, der ihn ausspricht. Ob also Epistemologie von Ethnizität abhängt? Auch wenn nicht so von Enzensberger formuliert, so ist das doch eines der Schlüsselprobleme unserer Frage. Enzensberger formulierte es so:

Diesem argumentum ad nationem bin ich oft begegnet…Alles was er sagt, wird dann zum bloßen Appendix seiner Nationalität…Und ebenso – verzeihen Sie mir, ich kann nicht anders – ist mir an den Untaten der Deutschen das schlimmste nicht, dass Deutsche sie begangen haben, sondern dass solche Untaten überhaupt begangen worden sind, und dass sie wieder begangen werden können.

Arendt ließ sich nicht darauf ein und sie bestand darauf, dass es sich in erster Linie um ein deutsches Problem handelte:

Nun ist es aber faktisch in Deutschland passiert und damit vorerst zu einem Ereignis deutscher Geschichte geworden, für das politisch, aber nicht moralisch, alle Deutschen heute die Haftung übernehmen müssen…Nur in Deutschland ist Auschwitz sogar eine innenpolitische Frage.

Und mehr als das: Arendt wollte nicht mit Enzensberger einverstanden sein, dass Auschwitz mit anderen Kriegshandlungen vergleichbar sei. Die Debatte von Arendt und Enzensberger nimmt also viele der nachfolgenden Debatten um die Vergleichbarkeit des Holocaust mit anderen grausamen Kriegshandlungen vorweg. Für Arendt hatten der Krieg und die Vernichtung der Juden nichts gemein:

[…] kurz gesagt, Hiroshima. Ich bin der Meinung, das ist ein Kurzschluss, der allerdings nahe liegt, weil beide Ereignisse nahezu gleichzeitig im Verlauf des Krieges eingetreten sind. Dabei wird übersehen, dass nur Hiroshima und das Städtebombardement (Dresden) mit der Kriegsführung zusammenhingen und in der Tat anzeigten, dass in einem mit modernen Mitteln geführten Krieg der Unterschied zwischen Krieg und Verbrechen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Aber Auschwitz hatte mit Kriegsführung nichts zu tun.

Es waren dieselben Mechanismen, die damals für Intellektuelle wie Enzensberger so anziehend waren, wie sie für solche wie Arendt genau das Gegenteil waren: diese Mechanismen versuchten die Partikularität der Opfer und der Täter des Holocaust herunterzuspielen. Aus persönlichen wurden unpersönliche Kategorien. Es konnte immer wieder in Vergangenheit und Zukunft geschehen. Der Holocaust wurde dadurch zu einer Kategorie des Völkermordes – das universale Verbrechen gegen die Menschheit schlechthin.

Arendt versuchte Enzensberger daran zu erinnern, dass es außer einer universellen Ethik noch eine andere geben kann. Diese Ethik war an die Partikularität gebunden, was dann auch heißt, dass man als konkreter Mensch an sein konkretes Dasein mit konkreter Verantwortung gebunden ist. Und dazu gehören die Geburt und die Geschichte. Und damit stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine wertfreie Beschreibung des Holocaust geben kann. Was dann auch heißt, dass das Nie Wieder normativ allgemeingültig, aber von Menschen verschieden erfahren wird.

Enzensberger antwortete nicht mehr und das Gespräch brach ab, wie es oft in letzter Zeit vorkommt, dass solche Gespräche abbrechen.

Was heißt das für eine Ethik des Nie Wieder?

Vielleicht ist das Sollen immer ans Sein gebunden? Ich will damit auch sagen, dass alles, was in der Welt geschieht, moralische Bedeutung hat. Diese Verknüpfung zwischen Moral und Identität wird auch der Versuch meiner Antwort darauf sein, wie man die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus aufrechterhält und nicht versucht aufzulösen, was so oft in einer normativen Moralphilosophie geschieht. Klar ist auch, dass nicht alle Moralität auf Identität beruht, sondern die Identität, das heißt die Antwort auf die Frage, wer wir im Endeffekt sind, ein Bestandteil der Moralität ist, da sie so leidenschaftlich ist und Teil unseres Lebens.

Natürlich kann man sich dagegen verwehren. Denken wir kurz an die von Hannah Arendt so verehrte Rosa Luxemburg, die 1917 an ihre Freundin Mathilde Wurm schrieb:

Was willst du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Negerin in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. Ich habe keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto ... Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken, Vögel und Menschentränen gibt.

Hier geht es in der Tat um „Nie Wieder Menschentränen“. Nie Wieder Unrecht, Nie Wieder Leid. Natürlich wurde das vor dem Holocaust geschrieben und der Bezugsrahmen ist der Kolonialismus, der in den heutigen Debatten wieder seine Schatten wirft.

Aber vielleicht trotzdem: was hat es mit den Sonderwinkeln im Herzen auf sich? Ich würde sogar behaupten, dass wenn man keine Sonderwinkel im Herzen hat, dann hat man am Ende überhaupt keine Winkel mehr und Mitgefühl ist zur leeren Phrase wie „Wir sind doch alle Menschen“ verkümmert. Ich glaube, dass Universalmaximen ohne die Leidenschaft der Identität nur leere Phrasen sind. Identität ist Teil unseres Lebens. Unsere Identitäten spielen eine Rolle, und gerade wenn es um das Nie Wieder geht, spielen sie die Rolle des Vermittlers zwischen unserer Partikularität, wer wir nun im Endeffekt sind, und unserer Universalität (Nie Wieder Menschentränen).

Die Tatsache unserer Individualität koppelt uns nicht von denjenigen ab, von denen wir auch Teil sind. Individualität ist ein soziales Produkt und als solches ein Produkt unserer Wurzeln und der Gefühle und Erinnerungen, die sozial und kollektiv erzeugt werden. Am Ende bleiben wir bei unseren Überzeugungen, die auf unserer Identität beruhen. Aber ist das nun reinste Identitätspolitik, die auch irgendwie beliebig sein kann?

Nun, wie Sie vielleicht bemerken, rekurriere ich auf eine Wissenssoziologie, die sehr viel dem jüdischen Denker Karl Mannheim schuldet.2 Mannheim war überzeugt, dass es eine von der Perspektive unabhängige Wahrheit gar nicht gibt. Was ich von Mannheim lernte, ist, mir die Strukturen des Denkens, die Hintergründe, Kontexte, und Sinnzusammenhänge genau anzuschauen, wenn es um anscheinend unüberbrückbare Gegensätze geht. Es geht mir dabei darum, Denken und Fühlen, Moralität und Identität, das Sein und das Sollen kreativ miteinander zu verbinden.

Und gerade in der Ethik des Nie Wieder ist das ein wichtiger Punkt.

Diese Ethik des Nie Wieder ist nicht nur ein nobles Ideal, das von menschlicher Größe ausgeht, sondern eine klare Herausforderung an unser Leben. Es geht darum, wie man nach der Katastrophe weiterleben kann. Wenn die Ethik des Nie Wieder in irgendeiner Form überhaupt Sinn ergibt, dann nur, wenn sowohl das Allgemeine als auch das Besondere bewahrt bleiben, ohne dass man Gefahr läuft, das eine auf das andere zu verkürzen. Das bedeutet daher auch mehr als die wirklich notwendigen Debatten, wie wir sie gerade erleben, historisch einzubetten und zu verankern. Das gilt insbesondere auch für Diskussionen über transnationale Gerechtigkeit, die über europäische Ansätze hinausgehen wollen und in denen es auch über die „Tradition der Unterdrückten“ geht. Hier sehe ich auch eine der Errungenschaften des post-kolonialistischen Diskurses. Partikulare Stimmen sind daher historisch und theoretisch notwendig. Die Rekonstruktion dieser historischen Debatten dient dabei nicht nur antiquarischen Zwecken, sondern soll den Versuch darstellen, eine postkritische Theorie durch Erfahrung zu untermauern. Und sicher waren die Erfahrungen von Arendt und Enzensberger verschieden.

Arendt und Enzensberger haben vor knapp 60 Jahren eine kurze Debatte geführt, die bis heute anhält. Beide haben auf ihr jeweiliges Gedächtnis gepocht. Beide hatten wohl von ihrem jeweiligen Standpunkt aus Recht oder auch nicht. Und beide Standpunkte sind eigentlich nur verschiedene Facetten des gleichen Phänomens und am Ende kann man das Eine ohne das Andere nicht verstehen. Es geht hier eigentlich um das Streiten, nicht unbedingt um das Rechthaben. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns einer dialogischen Illusion hingeben sollen. Konflikte können und sollen nicht weggedacht werden. Und Erinnerungen können nicht einfach ausgetauscht werden. Es geht nicht darum, sich einig zu sein, denn Einigkeit würde – so denkt auch Arendt – das Ende der Öffentlichkeit bedeuten.

Was bleibt uns dann als soziologische Beobachter der Ethik des Nie Wieder? Die Arendt-Enzensberger-Debatte wird heute zugespitzt weitergeführt. Und was die Heftigkeit der Debatten zuspitzt, ist die Tatsache, dass beide Seiten für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Haltung die Lehren aus einer grausamen Geschichte zu ziehen und also auf der richtigen Seite zu sein. Doch die richtige Seite der Geschichte hat verschiedene Wege eingeschlagen. Für einen Teil der Welt ist der Bezugspunkt eines neuen moralischen Absolutismus nach 1945 der Holocaust. Auch diejenigen, für die die richtige Seite der Geschichte woanders war, sehen den Holocaust als historische Folie und Hintergrund, vor der nahe und ferne Grausamkeiten und Gräueltaten gelesen werden, auch wenn sie woanders stattfanden und stattfinden. Verschiedenste Weltanschauungen beruhen darauf, die dann auch zu unterschiedlichen, manchmal konträren Schlussfolgerungen führen. In jedem Fall geht es um das Nie Wieder.

Ich werde versuchen, das zu konkretisieren: Viele Deklarationen nach 1945 gehen von diesem Nie Wieder, der Nicht-Wiederholung der Katastrophe, aus:

da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt

Nie Wieder sagt hier die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Hier wird das Nie Wieder unter dem Dach der Menschenrechte zur politischen Anklage gegen jeglichen Völkermord, Kolonialismus, Apartheid und Diktatur. Nie wieder Gewaltherrschaft von Menschen über Menschen ist wohl eine der bekanntesten Beschwörungsformeln, die es heute gibt.

Aber es gibt auch ein alternatives Nie Wieder:

Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach und in Europa Millionen von Juden vernichtete, bewies unwiderleglich aufs Neue, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muss, in einem Staat, dessen Pforten jedem Juden offenstehen, und der dem jüdischen Volk den Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie sichert.

Nie Wieder sagt dort die israelische Unabhängigkeitserklärung und vor allem sagt sie auch Nie Wieder Wir. Der Holocaust ist ein historisches Verbrechen gegen die Juden. In diesem Nie Wieder geht es um ein Gruppenschicksal, ein Menschenschicksal, aber auch um Einzelschicksale (Nie Wieder Opfer). Der Kern hat sich verschoben von dem generellen Nie Wieder zu: Nie wieder Opfer sein. Der israelische Staat deklariert sich mit dieser Erklärung als sicheren Hafen für die Juden, denen das Opferschicksal nie wieder widerfahren soll. Das ist ein weltanschaulich sehr anderes Nie Wieder. Der Staat Israel wird dadurch eine partikulare Lösung von einem partikularen Problem. Dieses Nie Wieder ist daher aus Prinzip gegen das Universalisieren. Denn in dieser Weltanschauung war es gerade die partikulare jüdische Erfahrung, nirgends auf der Welt willkommen zu sein, die den Holocaust möglich machte. Und das Nie Wieder wird realisiert in einer konkreten Handlung: der Schaffung eines sicheren Ortes, der auch dann vor dem Opfersein schützt, wenn alle anderen Orte unerreichbar werden. Dieser Ort wird nun von den Juden selbst kontrolliert. Doch das Prinzip der Menschenrechte steht dem Partikularisieren entgegen. Wenn Menschenrechte nicht gleich gültig für alle Menschen sind, dann sind es eben keine Menschenrechte. Hier stehen also konkurrierenden Formen des Nie Wieder gegenüber. Nie Wieder mobilisiert, Nie Wieder moralisiert, Nie Wieder hat immer Recht, denn wer will denn wieder Tyrannei, Völkermord, Kolonialismus, Faschismus und Holocaust? Das also war der Rahmen der Debatten, auch der Debatten die 2020 begannen und immer noch nicht abgeschlossen sind.

Aber stimmt diese Dichotomie überhaupt? Was den Juden geschah, hatte sowohl universelle als auch partikulare Bedeutung. Da könnte man sich in der Tat auch auf Lemkin, Arendt, Adorno und Horkheimer berufen. Aber es ging auch immer um die Partikularität des Universellen. Jeder Angriff auf eine partikulare Gruppe ist auch ein Angriff auf die Menschheit, eben weil die Menschheit divers und plural ist. Das heißt also auch, dass der jüdische Überlebenswille nach der Shoah auch gleichzeitig eine Angelegenheit der Menschheit ist.

Das hat auch theoretische Konsequenzen: Der Sinn liegt darin, verstehen zu wollen, dass das Universale und das Partikulare in einer sich gegenseitig bestimmenden Beziehung stehen. Sie sind keine Gegensätze, sondern definieren und beeinflussen sich gegenseitig. Man kann ja nur radikal universell sein, wenn der Partikularismus als Hintergrund dient. Und natürlich auch umgekehrt. Wenn eines sich ändert, dann auch das andere, aber nichts verschwindet.

Wie funktioniert dieses Nie Wieder? Der Motor des Nie Wieder ist das Mitgefühl. Wir müssen imstande sein mitzufühlen, wenn wir verlangen, dass etwas nie wieder geschehen soll. Es ist ein absolutes Verbot auf Grund von historischen Katastrophenerfahrungen. Das Nie Wieder braucht eine Konzeptualisierung und Definition des Wieder. Darin steckt eine wesentliche Voraussetzung. Die Katastrophe ist schon geschehen und soll in Zukunft verhindert und vermieden werden. Es geht also um Antizipation und Inszenierung einer drohenden Zukunft auf den Hintergrund einer erinnerten Vergangenheit. Ein weiteres Problem, das Denker der Moderne immer wieder beschäftigte.

Damit werden auch weitere Fragen offengelegt. Wie politisch kann das Mitgefühl sein, wie kann es zum Motor der Solidarität zwischen Fremden werden? Oder beschränkt sich dieses Sentiment nur auf die eigene Gruppe und die Grenzen des Mitgefühls sind dann die Grenzen der Gemeinschaft? Es kann nicht eindeutig bestimmt werden, warum Menschen ihre Entscheidung für einen universellen oder einen partikularen Standpunkt treffen, und ihre ökonomische Position erklärt sicher nicht alles. Was wir allerdings besser bestimmen können, ist, wie sie diese beiden Standpunkte miteinander verhandeln. Für Verfechter der Menschenrechte zum Beispiel werden die Personenkreise, denen ihr Mitgefühl zufließt, immer größer. Mitgefühl, aber auch Verstehen und Empathie sind nicht mehr auf die eigene Gruppe beschränkt und werden beispielsweise durch Bilder transportiert. Es handelt sich um eine erweiterte Denkungsart. Gerade darum geht es bei den Menschenrechten. Kognitiv kann diese Denkungsart aus den zunehmend globalisierten Medien entstehen. Normativ wird mindestens das „distanzierte Mitgefühl“ durch einen globalisierten Menschenrechtsdiskurs legitimiert. Zu einfach wäre es zu sagen, dass die einen moralische Helden und die anderen Bösewichte sind, dass die einen den Standpunkt der universellen Vernunft und die anderen den Standpunkt der partikularen Gruppe einnehmen. Es ist schwer, sich der Kritik zu entziehen, dass es sich bei diesem Gefühl um unpolitischen Kitsch handelt.

Es war Hannah Arendt, die sowohl in ihrer Lessing Preisrede in Hamburg von 1959 als auch in ihrer Studie über die Revolution etwas später, 1963, diesen Gedanken mehr als deutlich ausdrückte. Sie sieht in der Rationalität des 18. Jahrhunderts auch dessen sentimentale Seite, „die beide gleichwohl in den schwärmerischen Überschwang führen konnten, in dem man sich allen Menschen brüderlich verbunden sieht“. Arendt schätzt das als unpolitische und wertlose Schwärmerei ein, die in der Politik nichts zu suchen hat. Auch religiöser Glaube hat ihrer Meinung nach in der Politik nichts zu suchen und kann die Gesellschaften auch nicht vor dem „Bösen“ beschützen. Sie sah Mitleid als ein persönliches Sentiment, welches nicht verallgemeinert werden kann.

Wir können schwerlich umhin, bei Beurteilungen dieser Affekte die Frage der Selbstlosigkeit oder besser die Frage der Offenheit für andere, die in der Tat Vorbedingung der Menschlichkeit in jedem Verstande ist, aufzuwerfen.

Aber gerade da scheint es evident, daß die Mitfreude dem Mitleiden an Offenheit absolut überlegen ist. Gesprächig ist die Freude, nicht das Leid, und das wahrhaft menschliche Gespräch unterscheidet sich von der bloßen Diskussion dadurch, daß es von Freude an dem anderen und dem, was er sagt, ganz durchdrungen ist, gleichsam auf den Ton der Freude gestimmt ist.

Das Zitat hat mich schon immer fasziniert, auch weil ich nicht sicher war, was sie eigentlich damit meinte. Geht es Arendt unter anderem darum, zu zeigen, dass es eine Menschennatur an sich nicht wirklich gibt, und dass menschliches und natürliches Verhalten nicht unbedingt dasselbe sind. Sie war skeptisch, dass das Glück der Menschheit durch Mitleid produziert werden kann. Ihre Abneigung gegenüber der Französischen Revolution konnte sie kaum verstecken. Es ging Arendt nicht darum, menschlich oder menschlicher zu sein. Dieser Begriff der allumfassenden Menschlichkeit machte für sie keinen Sinn. Für Arendt war das Mitleid als politisches Instrument ein Instrument mit dem gerade Revolutionäre von Robespierre bis Lenin ihre gewaltvolle, ja totalitäre Politik verteidigten, also eigentlich ein antihumanistisches Instrument, das in humanistischer Verkleidung in der Geschichte auftrat. Wenn das wirklich wahr ist, was dann? Wie kann also die humanistische Tradition vor den Gefahren des „Totalitarismus“ bewahrt werden? Das war doch eigentlich das Anliegen von Arendt. Sie argumentierte gegen eine politische Gefühlswelt, die sich im Glauben an die Bruderschaft aller Menschen erschöpfte. Was geschieht aber, wenn Menschen eben keine Brüder sind? Und was heißt das für die konkrete Verantwortung, dass man sich nur als derjenige verteidigen kann, der auch angegriffen wird?

Vielleicht also doch eher Mitgefühl als Mitleid. Wie unterscheidet man das? Ich versuche diese Unterscheidung zu treffen. Arendts enger Freund W. H. Auden schrieb ein Gedicht über Flüchtlinge.

Refugee Blues (W. H. Auden, 1939)

Say this city has ten million souls,
Some are living in mansions, some are living in holes:
Yet there’s no place for us, my dear, yet there’s no place for us.

Once we had a country and we thought it fair,
Look in the atlas and you’ll find it there:
We cannot go there now, my dear, we cannot go there now.

Thought I heard the thunder rumbling in the sky;
It was Hitler over Europe, saying: ‚They must die‘;
We were in his mind, my dear, we were in his mind.

Dreamed I saw a building with a thousand floors,
A thousand windows and a thousand doors;
Not one of them was ours, my dear, not one of them was ours.

Stood on a great plain in the falling snow;
Ten thousand soldiers marched to and fro:
Looking for you and me, my dear, looking for you and me.

So beschrieb der Dichter Auden kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Situation der Flüchtlinge. Es ist des Dichters Appell an eine bessere und humanere Welt, eine Welt ohne Grausamkeit. Es geht dem Dichter um das Mitfühlen – die Fähigkeit den Schmerz fremder Menschen in die eigene Welt mit einzubeziehen. Dieser Appell wird heutzutage oft in der trockenen Sprache der Menschenrechte und nicht mit Gedichten formuliert. Wie oft geschieht das: Die abendliche Tagesschau oder die sozialen Netzwerke bringen Bilder, die zeigen, wie Kriegsgefangene brutal gefoltert werden oder wie Soldaten auf dem Boden liegende, unschuldige Zivilisten mit den Füßen treten. Oder sie zeigen Bilder von grausamen Polizeibeamten, die vor laufenden Handykameras jemanden zu Tode martern. Es handelt sich nicht um Bilder eines Spielfilmes, sondern um Bilder, die die Wirklichkeit wiedergeben irgendwo auf der Welt. Der geografische Ort dieser Bilder ist sicherlich nicht unbedeutend. Geben diese Bilder die Wirklichkeit in einem westlichen Land wieder, ist das Skandalöse, das sie aufdecken, sofort allgegenwärtig. Aber auch wenn die Bilder aus anderen Weltregionen stammen, treffen sie das kulturelle Nervensystem. Ein Beispiel, das ikonisch wurde: Am 8. Juni 1972 flog die Luftwaffe Südvietnams einen Napalm Angriff. Ein neunjähriges Mädchen, Phan Thi Kim Puc, erlitt durch den Angriff schwere Verbrennungen. Ein Fotograf, Nick Ut, war zur Stelle und nahm wohl eines der ikonischsten Fotos über den Schrecken des Krieges auf.

Das sind Gedanken, die bei mir auch während der jetzt anlaufenden Documenta-Debatte mitschwingen. Was für Bilder, was für eine Bildersprache wurden dort transportiert: Menschen erinnern sich mit Hilfe von Bildern. Diese Erinnerungen werden zu moralischen Prothesen. Sie erzeugen (oder auch nicht) ein Mit-Fühlen mit Fremden. Aber sie können auch genau das Gegenteil erzeugen. Welche Sprache wird hier gesprochen oder besser noch gefühlt? Nicht nur um vernunftbezogene Diskurse geht es, sondern auch um die Erweckung von moralischen Gefühlen, die gerade durch Bilder erzeugt werden können. Es geht also auch um die sogenannte Bildkompetenz, die Fähigkeit aus Bildern zu lernen.

Impression von der "documenta fifteen", die vom 18. Juni bis 25. September 2022 in Kassel stattfand und vom indonesischen Künstler_innenkollektiv "ruangrupa" kuratiert wurde. Quelle: Wikimedia Commons

Wie und wo also beginnen? Es gibt eine weniger bekannte politische Theoretikerin, Judith Shklar, eine lettische Jüdin, 1928 geboren, die mit ihrer Familie 1939 in die USA floh und eine für mich sehr wichtige Konzeption des Liberalismus der Furcht begründete:

Am Anfang steht die Furcht. Furcht vor Schmerz, Furcht vor Grausamkeit, Furcht vor gewaltsamen Tod. Der verwundbare Körper steht im Mittelpunkt einer solchen Theorie des Mitgefühls.

Hier könnte man durchaus den Ursprung einer neuen Aufklärung und damit auch einer negativ formulierten und auf Tabus bestehenden Theorie und Praxis finden. Furcht vor was? In erster Linie Furcht vor schlechteren und nicht Hoffnung auf bessere Zeiten. Historisches Gedächtnis gehört genauso dazu wie die soziologische Fantasie. Zukunftsforschung und Vergangenheitsforschung ergänzen sich. Nie Wieder kann auch auf der Fantasie von möglichen Alternativen beruhen. Nicht um das Prinzip Hoffnung für eine bessere Welt geht es, sondern um die Furcht, dass die Welt schlechter wird. Es geht also um die Furcht was passiert, wenn Liberalismus und Pluralität außer Kraft gesetzt werden. Es geht um Urteilskraft und die Fähigkeit, Böses vom Guten zu unterscheiden, sonst weiß man ja nicht, was Gut und was Böse ist. Historisch hat sich das über die Holocausterinnerung entwickelt.

Es war der italienische Jude Primo Levi, der dieses Dilemma so formulierte:

Ihr, die ihr gesichert lebet,
in behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mann sei,
Der schuftet im Schlamm,
Der Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
Denket, ob dies eine Frau sei,
Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte.
Denket, daß solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.
Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
Krankheit soll euch niederringen,
Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

Das ist der Beginn von Primo Levis autobiografischem Bericht Ist das ein Mensch, einer der ersten Reflexionen über das Nicht-Leben in Auschwitz. 1947 in Italien erschienen hatte es damals kaum Leser gefunden. Es handelt von der Fähigkeit mit den Opfern der Judenvernichtung zu fühlen. Levi war sich gleichzeitig sicher, dass das nicht gehen konnte. Und es schien Levi klar zu sein, dass die Bedeutung für die Nachfahren der Opfer anders ist als für die Nachfahren der Täter. Kann das Mitgefühl in der Tat jenseits von Gedenkveranstaltungen wirklich universalisiert werden? Wie können zum Beispiel Juden und Nichtjuden bei diesen Ritualen der Erinnerung gemeinsam agieren und einen öffentlichen Raum teilen?

Das alles sind Fragen, die ich hier nur aufwerfen kann. Aber Primo Levis Gedicht geht weiter. Ist das ein Mensch fragt, ob wir, die Nachkommen, irgendetwas gemeinsam haben mit denjenigen, die überlebten. Wir gedenken der Befreiung der Lager, aber können wir überhaupt irgendeine Verbindung mit denjenigen finden, die befreit wurden? Sind die, die dort waren und die, die abends heimkehren und warme Speisen finden, eigentlich Teil der gleichen Welt, der gleichen Menschheit?

Aber was meint Levi eigentlich mit seiner Frage, ob der Überlebende ein Mensch sei? Wie kann man diese Frage beantworten? Verraten wir mit „ja natürlich“, das ist ein Mensch, nicht die Erfahrung derjenigen, die dort waren? Aber ist die andere Antwort, „nein, das ist kein Mensch mehr“ nicht genauso prekär und verräterisch? Die positive Antwort „ja“ ignoriert die Monstrosität der Verbrechen, die negative Antwort „nein“ bestätigt vielleicht die Entmenschlichung der Lager selbst. Levi spricht über das „ihr“, das abends nach Hause kehrt. Diesem „ihr“ steht das „wir“, die dort waren, gegenüber. Was haben sie gemeinsam? Können wir, die warme Speise finden, überhaupt wissen, was es heißt, würdelos zu sterben. Es gibt keinen gemeinsamen Grund, auf dem wir gehen. Deshalb ist für Levi die Geschichte von Auschwitz die Geschichte derjenigen, die nicht überlebten, die Untergegangenen, wie er sie nennt. Sogar die Überlebenden wie er, die Geretteten, wie er sie nennt, kennen die wahre Geschichte nicht.

Was sind die politischen Konsequenzen, wenn wir beginnen, Levi ernst zu nehmen? Wie können wir die Welt der Untergegangen und Geretteten miteinander verbinden? Mitgefühl ist daher sowohl ideologisch, aber gleichzeitig auch utopisch. Es ist normativ bindend für die Einen, und wirklichkeitstranszendierend für die Anderen. Zwischen diesen liegen der Körper und seine Verletzlichkeit – seine Sterblichkeit. Und daher sind Bilder so wichtig, um diese Sterblichkeit zu vermitteln. Bilder zu betrachten bedeutet nicht, sich in den privaten Welten einzelner Erzählungen zu verlieren. Bilder vermitteln zwischen dem Universalen und dem Besonderen unserer Verwundbarkeit. Und durch das Betrachten werden wir in der Tat mitfühlend. Also brauchen wir Bildkompetenz. Mit welchen Konsequenzen aber, das sei dahingestellt.

  1. Dieser Blogbeitrag geht auf einen Vortrag von Natan Sznaider am CAS LMU vom 18. Juli 2022 zurück.
  2. Siehe Natan Sznaiders Beitrag über Karl Mannheim in diesem Blog.

Literatur:

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1964.
Hans Magnus Enzensberger, Politik und Verbrechen, 1964.
Hans Magnus Enzensberger, Hannah Arendt, Politik und Verbrechen: ein Briefwechsel, Merkur, Heft 205, 1965.
Hannah Arendt, Über die Revolution/ On Revolution, 1963.
Primo Levi, Ist das ein Mensch?/ Se questo è un uomo, 1947.

Natan Sznaider, Mitgefühl und die Politik des „Nie Wieder“: Ist politisches Leid vergleichbar?, CAS LMU Blog, 25 January 2023, https://doi.org/10.5282/cas-blog/44
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