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Über Karl Mannheim. Wissenssoziologie als „jüdische Wissenschaft“?

Natan Sznaider, 25 January 2023

Er hatte manche Eigenschaften eines alttestamentlichen Propheten. […] Ich hatte mit ihm über das Wesen der Freiheit gestritten; ich glaube, dass ich nicht fehl gehe, dass seine Freiheitsidee etwas anderes war als das, was denjenigen, deren Vorfahren nicht aus dem Ghetto stammten, vorschwebt.

Diese Worte stammen aus Leopold von Wieses Nachruf auf Karl Mannheim, veröffentlicht im ersten Jahrgang der neuen Kölner Zeitschrift für Soziologie 1948. Der deutsche Soziologe Leopold von Wiese war Vorsitzender der 1946 wiedergegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der jüdische Soziologe Karl Mannheim floh 1933 aus Deutschland und verstarb 1947 in London. Anlässlich der Wiedergründung der Gesellschaft konstatierte von Wiese über die Jahre davor in Deutschland:

Und doch kam die Pest über die Menschen von außen, unvorbereitet, als heimtückischer Überfall. Das ist ein metaphysisches Geheimnis, an das der Soziologe nicht zu rühren vermag.

Von Wiese, so heißt es, war „mit Anstand“ durch die NS-Zeit gegangen. Er und Mannheim kannten sich aus der Weimarer Zeit und in der Tat stritten sie damals über das Wesen der Freiheit und über andere soziologische Fragen. Was trennte diese beiden Soziologen, der eine 1876 im niederschlesischen, damals deutschen Glatz, der andere 1893 in Budapest geboren? Was meinte von Wiese mit den „Eigenschaften eines alttestamentlichen Propheten“ und was hatte er wohl im Sinn, als er über die verschiedenen Freiheitsideen sprach? Welche Freiheitsidee passt besser zu denjenigen, deren Vorfahren aus dem Ghetto stammen? Ist diese Aussage von Wieses schlicht ein antisemitisches Klischee oder steckt dahinter vielleicht eine soziologische Beobachtung über die Denkweise von Juden hinsichtlich ihres Freiheitsbegriffs? Dass die Weimarer Soziologie in der Tat eine „jüdische Wissenschaft“ war, wie sie nicht nur von rechten Kreisen während der Zeit der Weimarer Republik be- und verurteilt wurde, führe ich im Folgenden näher aus.

Diese Fotoaufnahme von Gisèle Freund aus dem Jahr 1932 zeigt Karl Mannheim und Norbert Elias mit Studierenden im Café Laumer. (Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach, © für Gisèle Freund IMEC - Bureau parisien / Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, siehe auch: Wolfgang Martynkewicz, Das Café der trunkenen Philosophen, 2022.)

Die Bezeichnung jüdische Wissenschaft existierte bereits lange vor dem nationalsozialistischen Regime. Was es mit dieser Bezeichnung auf sich hat, das sind beileibe keine Randfragen, sondern Schlüsselfragen, die nicht nur die Soziologie Mannheims betreffen. Kann eine bestimmte Form der Soziologie als ein Ausdruck moderner, säkularer jüdischer Kultur verstanden werden? Gab und gibt es eine jüdische Nation ohne Territorium, die verstreut und über Grenzen hinweg in Europa lebt(e)? Gehörte ein Soziologe wie Karl Mannheim, der, 1893 in Ungarn geboren, zwischen 1919 und 1933 in Deutschland lebte und lehrte, in dieser Zeit eine neue Soziologie in Deutschland darlegte, dann vor den Nazis nach London floh und dort 1947 verstarb, zu dieser Nation ohne Territorium? Mannheim war ein assimilierter Jude, also ein Jude, der nach außen hin nicht mehr als Jude zu erkennen war. Ein Jude – in den Worten von Wieses –, dessen Vorfahren wohl aus dem Ghetto stammten, der aber selbst Teil einer bürgerlichen Welt war. Mannheim gehörte ebenso zu diesem europäischen, deutschen Bürgertum wie er nicht dazu gehörte – und es ist gerade dieses Nicht-Dazugehören, das auch die Basis seiner Wissenssoziologie war, welche auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins und die Entschiedenheit des antisemitischen Staates traf, diese transnationalen jüdischen Kulturen und kosmopolitischen Kleingesellschaften im Herzen Europas auszulöschen. Konsequenterweise wird hier darum Mannheims Soziologie als Teil der jüdischen Kultur analysiert, denn das professionelle Denken, das Teil dieser jüdischen Kultur war, hatte sich seit Beginn kritisch mit dem europäischen Selbstverständnis auseinandergesetzt, das spätestens seit der Französischen Revolution tief mit dem Postulat der universellen Gleichheit aller Menschen verbunden ist.

Die jüdische Erfahrung zeitigte auch in Mannheims Geschichte Konturen, wie sie vergleichbar auch bei anderen Autoren zu finden sind; etwa die von Émile Durkheim vertretene soziologische Denkweise, dass der Universalismus eine unangemessene Antwort auf die Herausforderung des Partikularismus ist. Es scheint jedoch, dass heute das Wissen um die Affinität zwischen Soziologie und jüdischer Erfahrung gelöscht ist. Von Wieses Bemerkung zum Tode Mannheims ist entweder in Vergessenheit geraten oder man hat sie bequem in der Schublade „unpassende Bemerkungen einer alten, antisemitisch eingestellten deutschen Elite“ abgelegt. Aber man kann die Geschichte des Verhältnisses von Soziologie und jüdischer Kultur auch anders erzählen. Wir werden dabei auf europäische Juden in Deutschland treffen, die vor der Katastrophe eine neue jüdische Denkweise entwickelten. Diese Denkweise wurde geradezu unter Zwang erfunden und gelebt, musste und wollte sich abgrenzen von der ihrer deutschen Zeitgenossen.

Als Mannheim 1929 den Ruf nach Frankfurt bekam, wurde er mit knapp vierzig Jahren ein respektierter und anerkannter Professor. Einfach war es nicht gewesen, diese Stelle zu bekommen. Es gab Widerstand. Er war Jude aus Ungarn. Viele Ministerialbeamte und Universitätsrektoren mochten das überhaupt nicht. Und jung war er dazu. Den Ruf nach Frankfurt nahm er an mit siebenunddreißig, nachdem er erst elf Jahre in Deutschland war, damals geflohen aus Ungarn. Dort hatte man ihn zu sehr mit der Revolution Béla Kuns in Verbindung gebracht, obwohl er sich nie als Revolutionär verstand. Seinen ersten wissenschaftlichen Anlaufpunkt fand er in Heidelberg, wo er sich bei Alfred Weber habilitierte. Nach Heidelberg kam er 1919, gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt. Kurze Zwischenstationen waren zuvor Wien und Freiburg gewesen. Fremd fühlte er sich damals in Heidelberg, auch wenn diese kleine und zugleich bedeutende Universitätsstadt vielen als wunderschön galt. Aus dieser Zeit kennen wir die sogenannten Heidelberger Briefe, die er auf Ungarisch für kleine Exilzeitschriften schrieb:

Wir Ungarn leben in der Zerstreuung, der eine hier, der andere dort, und jeder Punkt der Welt ist heute weiter entfernt als früher, aber dennoch ist unsere Neugier gieriger denn je.

Ehemals Ungar, noch kein Deutscher, immer noch Jude, so kam Mannheim in Heidelberg an. Hier wurde er Teil der „freischwebenden Intelligenz“; ein Begriff, der fest mit seinem Namen verbunden ist, obwohl er eigentlich von seinem verehrten Lehrer Alfred Weber stammte, was er in seinen Vorlesungen in Frankfurt immer wieder betonte. Soziologie sei Fremdsein, es gehe um Distanz, mit der man die Dinge betrachtet. Distanziert, über den Dingen stehend, ja schwebend, glaubte er als Intellektueller sich den Normierungen seiner Zeit entziehen zu können.

Mannheim war bekannt als jemand, der Gespräche suchte, ja, der Gespräche als den Schlüssel zur soziologischen Erkenntnis entdeckte. Das begann schon im Budapester Sonntagskreis, der 1915 von verschiedenen ungarischen Intellektuellen, darunter Georg Lukács, gegründet wurde. Man traf sich sonntagnachmittags um fünf Uhr im Hause des Dichters und diskutierte bis fünf Uhr in der Frühe, von einem Ausflug in ein Gasthaus unterbrochen, wo man gemeinsam zu Abend aß. Diese Erfahrung einer osteuropäischen Intelligenz, geprägt vom Ersten Weltkrieg, von allem enttäuscht, aber voller Hoffnung auf das Neue, noch nicht Erkannte – diese Erfahrung, die Mannheim mit Mitte zwanzig in Budapest machte, sollte seine zukünftige Welt prägen. Es war ein Kreis von Intellektuellen, von denen einige, wie Georg Lukács und Arnold Hauser, sich international einen Namen machen sollten. Sie gehörten fast sämtlich zum assimilierten Judentum von Budapest. Aus den wenigen überlieferten Zeugnissen des Kreises ist klar zu erkennen, wie Heimatlosigkeit, Distanz und der Wunsch, über den Dingen zu stehen, schon vor ihrer Ausarbeitung in der späteren Soziologie Mannheims hier Konturen fanden.

In der Arbeit, mit der sich Mannheim 1925 in Heidelberg bei Alfred Weber habilitiert hatte, ging es um Konservatismus. In diesem Buch sind die ersten Wurzeln seiner historischen Wissenssoziologie zu erkennen. Analysiert werden Strukturen des Denkens, deren Hintergründe, Kontexte, Sinnzusammenhänge. Mannheim unterscheidet darin zwischen dem, was er „Traditionalismus“ nennt – einer unreflektierten psychologischen Grundhaltung, die auf die Bewahrung des Bestehenden pocht –, und dem „Konservatismus“ als einer reflektierten Reaktion auf die Moderne, die im ständigen Dialog mit dem Liberalismus der Aufklärung steht. Dieser Grundgedanke, dass politische Denkstrukturen einander in Wechselwirkung definieren, bestimmt dann auch den Essayband Ideologie und Utopie; das Buch, das 1929 erschien und seinen Ruf als neuen Star der Soziologie in Deutschland festigte.

Mannheim glaubte nicht, dass man noch nach der fundamentalen Wahrheit suchen kann, höchstens könne man über sie sprechen. Er sah die Soziologie als eine Übung über die Strukturen des Denkens und das Denken über gesellschaftliche Zusammenhänge nachzudenken, gleichzeitig in Bewegung zu denken, ohne dass es einen festen Ausgangspunkt der Erkenntnis gäbe. Er wusste, dass dies eine unmögliche Aufgabe war, doch gerade dies machte sie für ihn faszinierend.

1921 veröffentlichte er in einer kleinen Kunstzeitschrift erste Gedanken zu seiner Theorie der Weltanschauungen. Beispiele dafür fand er in der Kunstgeschichte – damals war er noch interessiert, eine Synthese der verschiedenen Kunststile zu finden. Warum wird ein bestimmtes Kunstwerk als impressionistisch bezeichnet? Er wollte wissen, warum Künstler zu Ausdrucksformen fanden, für die Begriffe wie Impressionismus, Kubismus oder Expressionismus geprägt wurden. Welche Fragen trieben die Künstler an – und war es möglich, auf einer allgemeinen Ebene den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Welt und jenen künstlerischen Ausdrucksformen zu beschreiben? Solche Fragen interessierten ihn und er suchte nach Möglichkeiten, das Denken unter der Bedingung ständiger Veränderung zu analysieren.

In den Essays in Ideologie und Utopie unterschied er zwischen Gedanken unter den Bedingungen des sozialen Wandels, die er Ideologie nannte und worunter natürlich vor allem der Versuch fällt, spezifischen Sichtweisen auf die Welt das Gewand des Absoluten anzulegen – und einem Denken als Verwandlung, das weiterreicht und die Welt transformieren will und das er Utopie nannte. Ideologie ist notwendigerweise Teil der Moderne und ihrer alle Bereiche des Lebens erfassenden Veränderungen. Verwandlung aber, also Utopie, geht weit darüber hinaus und ermöglicht morgen, was gestern nicht einmal gedacht werden konnte. Dieses Denken ging in der Tat mit der Zeit. Mannheim versuchte mit seiner Soziologie, den Sog der Zeiten einzufangen, in denen es keine Gewissheiten mehr gibt, in denen Bekanntes zu Unbekanntem wird und wir die Existenz des Unbekannten als Teil unseres täglichen Lebens betrachten. In seiner Vorlesung erläuterte er zugleich, welche Funktion diese Reprimitivierung für Einzelne und Gruppen erfüllte: Sie war demnach ein Versuch des Umgangs mit einer allzu komplexen Wirklichkeit.

Womit wir bei einem der Schlüsselthemen Mannheims angelangt sind: Wie lebt man in einer komplexer werdenden Gesellschaft und wie geht man um mit der (Über-) Fülle an Eindrücken, in der der Gesamtzusammenhang nicht zu erkennen ist? Es ging ihm um das Leben in der Pluralität und wie diese gestaltet werden kann. Mit seiner Wortschöpfung der „Reprimitivierung“ machte Mannheim zweierlei deutlich: In der Moderne kann es keine Kontinuität des Einfachen mehr geben, jede Rückwendung dorthin ist ein „Re-“, eine Neuinszenierung von etwas unwiederbringlich Vergangenem. Zugleich kennzeichnete er jene Rückwendung als einen Verlust an Zivilisiertheit und Kultur, eben als „-primitivierung“. Wie viele seiner Kollegen versuchte er den Weimarschen Liberalismus durch Pluralismus des Denkens zu retten. Er glaubte an das Projekt, alles Absolute relativ zu sehen. Aber das konnte natürlich nicht unbeantwortet bleiben. Viele Gegner der Soziologie waren gleichzeitig auch Gegner des jüdischen Einflusses auf den „deutschen Geist“ wie etwa Robert Ernst Curtius oder Carl Schmitt, um nur zwei zu nennen. Ihnen war sehr wohl bewusst, dass in Mannheims Wissenssoziologie das Allgemeine und das Besondere in einem dialektischen Verhältnis zueinanderstehen. Das Allgemeine und das Besondere widerspricht sich nicht, sondern definiert und beeinflusst sich gegenseitig. Das war wohl der wichtigste Punkt in Mannheims Soziologie: In seiner Wissenssoziologie bedeutet das Universelle, was es bedeutet, weil das Partikulare sein Hintergrund ist, während das Partikulare das bedeutet, was es bedeutet, weil das Universelle wiederum sein Hintergrund ist. Wenn sich das eine ändert, ändert sich zugleich das andere – aber vor allem verschwindet keines der beiden. Mannheim versuchte fast schon verzweifelt zu zeigen, dass die gegenseitige Beeinflussung bestimmter Wissenssysteme durch die Institutionalisierung sogenannter freischwebender Intellektueller beide Seiten des Wissens und sogar der Wahrheit hervorbringt. Er meinte aber eine soziologische Wahrheit, nämlich den zentralen, aber wachsenden Kern von gemeinsamen Werten und deren empirische, aber auf das Universelle bezogenen Variationen. In Mannheims Augen haben Intellektuelle die Aufgabe, die Gesellschaft als Ganzes zu denken und bestimmte Standpunkte zu überwinden, indem sie frei darüber schweben. Diese Auffassung hatte er schon in seinem Beitrag beim Deutschen Soziologentag in Zürich 1928 vorgetragen. Dort versuchte er zu zeigen, dass das wirtschaftliche Konzept der Konkurrenz der Analyse einer der grundlegendsten sozialen und kulturellen Beziehungen in der Moderne dient. Wie bei Frankreichs berühmtestem jüdischen Soziologen, Émile Durkheim, ging es darum, wirtschaftliche Begriffe wie Arbeitsteilung und Konkurrenz in Schlüsselbegriffe der Moderne zu verwandeln. Im selben Jahr veröffentlichte Mannheim einen Aufsatz, der seinen Ruhm unter Soziologen festigte: Das Problem der Generationen. Das war seine endgültige Abkehr von der Klassenfrage. Er war nie wirklich Marxist gewesen, hatte sich aber mehr oder weniger einer marxistischen Beobachtung verpflichtet gefühlt, bewunderte noch immer seinen Lehrer Georg Lukács, der ihn wohl als jungen Mann davon überzeugen wollte, ein aufrechter Marxist zu werden. Er fühlte sich nie wohl in dieser Rolle, obwohl Lukács viel für ihn getan hatte, ja ihn sogar für kurze Zeit zum Hochschullehrer machte, bevor die Kommunisten aus Ungarn vertrieben wurden. Für Mannheim war der Aufsatz über Generationen der Versuch, sich endgültig aus dem Marxismus herauszuschreiben. Und er wollte sich und seine eigene Generation besser verstehen, erklären, wie sich der Wandel der Welt im Bruch zwischen den Generationen manifestiert.

Der Zufall wollte es, dass genau zu dieser Zeit – um 1931 – Hannah Arendt mit ihrem damaligen Ehemann Günther Stern (besser bekannt als Günther Anders) Lehrveranstaltungen von Karl Mannheim in Frankfurt besuchte. Ihr Buch über das Leben der Jüdin Rahel Varnhagen begann sie bereits um 1929, auch wenn es erst 1956 in den USA veröffentlicht wurde. In diesem Buch ging es um Frauen und Jüdinnen und um die Assimilation, ein Drama des 19. Jahrhunderts, das Arendt nachspielte. Arendt besuchte in Frankfurt die Seminare Mannheims, besonders eine interdisziplinäre Tagung, die sich mit der Problematik des deutschen Frühliberalismus beschäftigte. Man kann durchaus annehmen, dass Arendt und Mannheim Gelegenheit hatten, sich über Fragen der jüdischen Assimilation auseinanderzusetzen, etwa in der Arbeitsgruppe zur Geschichte des deutschen Judentums, die Mannheims Doktorand Jacob Katz in Frankfurt unter Mannheim leitete. Weder Katz noch Arendt waren der Meinung, dass die jüdische Geschichte durch Assimilation von der Dunkelheit ins Licht geführt wurde. In ihren Augen brachte Assimilation eher weitere Probleme für jüdisches Leben mit sich. Es ging darum, wie man mit der aufklärerischen Forderung des russisch-jüdischen Autors und Dichters Judah Leib Gordon aus dem Jahre 1866 umgehen sollte: Sei ein Jude zu Hause und ein Mensch in der Welt. Denn das war eigentlich die Forderung nach der Unsichtbarkeit von Juden im öffentlichen Raum. Die Judenemanzipation ist der Beginn eines Prozesses, der Juden mit dem Versprechen der Staatsbürgerschaft als Juden unsichtbar machte. Sowohl Jacob Katz als auch Hannah Arendt, wohl beide von Gesprächen mit Karl Mannheim beeinflusst, waren sich darüber klar, dass es auch nach der Emanzipation nicht einfach für Juden war, sich dem Vorwurf zu entziehen, eine „Nation innerhalb einer Nation“ zu sein. In einer Zeit, in der Modernität auch den Übergang von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ bedeutete, wurde dies zu einer Anklage gegen Juden. Sie waren immer noch eine enge Gemeinschaft und unterminierten damit die allgemeinen Ansprüche der Staatsbürgerschaft, sowie sie jedoch gleichzeitig die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft nutzten – das war jedenfalls die Meinung derjenigen, die in den Juden Feinde der Nation sahen. Juden waren in einem Doublebind gefangen: Sie wurden als zu partikular angesehen, um universelle Bürger zu sein, und als zu universell, die Grenzen der Staatsbürgerschaft überschreitend, eigentlich zu kosmopolitisch, um partikulare Bürger zu sein.

Auf der einen Seite brachte die Emanzipation die sogenannte „Jüdische Frage“ erst ins Bewusstsein, gleichzeitig war die jüdische Emanzipation für viele Juden durchaus eine Befreiung. Darum ging es Katz in seiner 1934 eingereichten Dissertation Zur Assimilation der Juden und darum ging es Arendt auch in ihrem Buch über Rahel Varnhagen. Die Utopie der Emanzipation bedeutete, dass die Ablehnung der Gleichberechtigung für Juden nicht länger toleriert werden sollte und dass Juden als Menschen eines bestimmten Glaubens (oder überhaupt eines Glaubens) in eine Gesellschaft gleicher Bürger integriert werden sollten. Doch in dieser hoffnungsvollen Lesart der Wissenssoziologie Mannheims lag das neue Drama der Moderne, weil damit die Gewissheiten der Traditionen ihre Gültigkeit verloren und stattdessen jede partikulare Perspektive als eine alleingültige Wahrheit verstanden wurde. Obwohl sie das ganze Dilemma sahen und wussten, dass Aufklärung nicht nur ins Licht führt, dachten sowohl Katz als auch Arendt, dass der Eintritt emanzipierter Juden in die europäische Bildungselite Aussicht auf Freiheit verhieß. War das die Freiheit, die von Wiese in seinem Nachruf auf Mannheim meinte? Die Freiheit des Juden, der ein Mensch in der Welt sein konnte, aber trotzdem ein Jude zu Hause?

Ein Jahr vor ihrem Zusammentreffen in Frankfurt veröffentlichte Arendt noch eine scharfe Kritik an Mannheim. So sehr ihre Studie über Rahel Varnhagen von Katz beeinflusst und damit von Mannheim inspiriert war, so wenig konnte sie sich mit Mannheims soziologischem Zugang zu verschiedenen Denkstrukturen anfreunden. Sie veröffentlichte ihre Kritik in der sozialdemokratischen Zeitschrift Die Gesellschaft. Arendt glaubte zu dieser Zeit noch an den absoluten Standpunkt, an die Freiheit des Menschen, die sie von der Soziologie bedroht sah. Ihr ging es um das Denken an sich. Arendt schrieb noch im Duktus ihrer Lehrer Heidegger und Jaspers. Jaspers und Mannheim waren schon in Heidelberg aneinandergeraten, bis hin zu Jaspers‘ Versuch, Mannheims Habilitation dort zu verhindern. Auch veröffentlichte Jaspers 1931 ein kleines Buch gegen moderne Erscheinungen, wozu er die Massengesellschaft ebenso zählte wie die Soziologie: Die geistige Situation der Zeit. Mannheim blieb in dem Buch ungenannt, aber die darin enthaltenen Angriffe auf die Soziologie waren auf ihn zugeschnitten. Es war eine Schrift gegen alles Moderne, eine philosophische Verteidigung des 19. Jahrhunderts. Unehrlich seien jene „soziologischen Sophisten“, intellektuelle Opportunisten, die die wahre Essenz des Menschen nicht verstünden, immer auf Kompromiss aus und sich hinter der Maske der Empörung versteckend. Dass sein Denken in der Tat eine Überlebensstrategie war, war Mannheim sicherlich nicht bewusst. Er glaubte, dass sowohl in der neuen Wissenssoziologie als auch in der Politik Distanzierung vom eigenen Standpunkt notwendig sei, denn nur so könnten Kompromisse als Lösung von Konflikten gefunden werden. Distanz ist daher für Mannheim kein Zustand, sondern zugleich Haltung und Handlung. Es ging ihm nicht um statische Synthese, sondern um eine dynamische, da nicht nur in der Politik alles im Werden war. Und hier ist es wiederum die freischwebende Intelligenz, die diese Synthese denken muss. Nur auf diese Weise kann Politik funktionieren. Nicht um Wahrheit geht es in der Politik, sondern um Kompromisse, die man aus verschiedenen Weltsichten herausfinden müsse.

Eigentlich war Arendt ihm näher, als sie sich noch 1930 eingestehen wollte. Jaspers und Arendt hatten natürlich recht mit dem, was sie in ihrer Schelte über die Soziologie sagten. Aber darum ging es ja gerade! Mannheim analysierte in der Tat die Strukturen des Denkens. Das Denken stellte für ihn wiederum keinen autonomen, sondern einen sozialen Prozess dar, der mit der Reflexion der Umwelt zu tun hat. Er sah sich tatsächlich als Sophist und dachte – wie er später schrieb –, dass es die Sophisten waren, die den Geist in der Antike vor den Angriffen der anderen Philosophen schützten. Sie waren es ja, die von Polis zu Polis zogen, überall Fremde waren und deshalb hinter die Wahrheiten der Orte schauen konnten. Damit schufen sie quasi den Beginn der Soziologie, so wie Mannheim sie verstand.

All das wurde im Kaffeehaus in Frankfurt diskutiert. Das Café Laumer in Frankfurt war eine besondere Institution, wo Mannheims so geschätzten Nachseminare stattfanden. Hier war der Ort, wo man die neuesten Thesen der Lehrer und Kollegen diskutierte, neue Entwicklungen in den benachbarten Fächern, in Kunst und Literatur besprach, Amouren begann und wieder beendete, die stilvolle Umgebung genoss, das hervorragende Gebäck, so heißt es, eingeschlossen. Hier wurde Soziologie im Gespräch erschlossen. Für Mannheim stand fest, dass eine Soziologie nur dann sinnvoll sein kann, wenn sie in der Lage ist, neue Phänomene zu beschreiben und zu erkennen. Um aber neue Gesellschaftstheorien und deskriptive Konzepte zu schaffen, müssen Betrachter in der Lage sein, die Perspektive zu wechseln. Es drehte sich um Bildung und es war der Glaube an Kultur. Es kam anders. Denn die, die ihren Revolver entsichern, wenn sie das Wort Kultur hören, kamen an die Macht und das Kaffeehaus blieb für lange leer.

Natan Sznaider, Über Karl Mannheim. Wissenssoziologie als „jüdische Wissenschaft“?, CAS LMU Blog, 25 January 2023, https://doi.org/10.5282/cas-blog/43
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