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Zum Aufstieg des autoritären Populismus. Michael Zürn im Gespräch mit Bernhard Zangl

Michael Zürn, 14 April 2021

Bernhard Zangl (BZ): Lieber Herr Zürn, in Ihren neuesten Arbeiten befassen Sie sich mit dem Aufstieg des autoritären Populismus. Was verstehen Sie darunter?

Michael Zürn (MZ): Damit sind Parteien und politische Bewegungen gemeint, die für sich reklamieren, im Namen der Demokratie der „einfachen Bevölkerung“ wieder eine Stimme zu verleihen, aber gleichzeitig eine grundlegende Gefahr für die liberale Demokratie darstellen. Die vorherrschende Definition des niederländischen Politikwissenschaftlers Cas Mudde versteht den Populismus als eine „dünne Ideologie“ (thin-centered ideology), die die Gesellschaft in zwei homogene und antagonistische Gruppen einteilt: „das reine Volk“ und „die korrupte Elite“.

BZ: Diese Definition ist Ihnen aber zu substanzlos.

MZ: Ja genau. Sie verweist zwar auf einen wichtigen Aspekt des Populismus, ist aber nicht ausreichend. Zum einen produziert sie zu viele „falsche Positive“, wie etwa die von der friedlichen Revolution in der späten Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Alle Bewegungen, die sich gegen vermeintlich autoritäre Machthaber durchsetzen wollen, müssen sich notgedrungen gegen das Establishment richten und sich selbst als einigermaßen homogen darstellen. Das alleine macht sie aber noch nicht zwingend zu pluralitätsverneinenden Populisten. Zum anderen ist der Populismus, der in weiten Teilen der Welt heute zu beobachten ist, keine leere Form, die beliebig mit anderen Inhalten gefüllt werden kann. Der gegenwärtige Populismus ist vorrangig ein autoritärer Populismus. Es handelt sich um eine politische Ideologie, die auf eine entprozeduralisierte Form der Mehrheitsrepräsentation baut und sich nationalistisch gegen „liberale kosmopolitische Eliten“ wendet. Der Topos our nation first bringt den Nationalismus zum Ausdruck. Die Entprozeduralisierung verweist auf die Ablehnung des demokratischen Streites über das, was richtig ist. Es muss nicht ausgehandelt werden, was das Richtige ist. Es steht fest. „Er weiß, was wir wollen“ stand auf einem Wahlplakat, das für den FPÖ-Politiker H.C. Strache warb.

BZ: Woran machen Sie den Aufstieg des autoritären Populismus fest? Wie drückt er sich aus? Und in welchen Staaten sehen wir ihn?

MZ: Autoritär-populistische Parteien haben in fast allen liberalen Demokratien in Westeuropa ein Wählerpotential von ca. 20 Prozent der Stimmen. Viel wichtiger noch: Ein erheblicher Anteil der Weltbevölkerung wird von autoritären Populisten regiert. Die bekanntesten Namen sind Bolsonaro, Modi, Erdogan, Orban, Kaczyński, Maduro, Putin und bis vor Kurzem allen voran Trump. Das sind fast alles große Länder, was den autoritären Populismus so wirkmächtig für die internationale Ordnung macht. Der autoritäre Populismus hat sich in relativ kurzer Zeit global ausgebreitet.

BZ: Während der Aufstieg des autoritären Populismus gemeinhin entweder ökonomisch oder kulturell erklärt wird, bevorzugen Sie eine politische Erklärung. Was ist an den ökonomischen bzw. kulturellen Erklärungen auszusetzen?

MZ: Beide Erklärungen erfassen nur einen Teil der Geschichte. Gerade die Zahlen aus quantitativen Untersuchungen zeigen, dass die Erklärungskraft beschränkt ist. Nehmen wir als Beispiel die sozioökonomischen Erklärungen, die an der wirtschaftlichen Lage der betroffenen Individuen und an deren Furcht vor sozialem Abstieg ansetzen. Die Verliererinnen der Globalisierung, so die Kurzfassung, seien besonders anfällig für die Lockrufe des Populismus. Doch es bleibt rätselhaft, wieso sich diese Gruppe an autoritär-populistische und nicht etwa an linke Parteien wendet, deren Markenkern der Kampf gegen Ungleichheit und der soziale Schutz ist. Wieso sollten Wählerinnen, die sich ökonomisch benachteiligt fühlen und mehr staatliche Unterstützung erwarten, für Steuersenker par excellence wie Silvio Berlusconi, Donald Trump oder Boris Johnson stimmen, die zudem zum obersten Zehntelprozent in der Einkommensverteilung gehören? Weiterhin fällt auf, dass die Niederlande, Österreich und Frankreich – also genau die Länder, in denen autoritär-populistische Parteien die ersten Erfolge feierten – verhältnismäßig wenig von wachsender Ungleichheit geplagt sind. Schließlich bleibt aus sozioökonomischer Perspektive unklar, warum sich in Ländern, die zumindest phasenweise besonders stark von der Globalisierung profitiert haben, man denke etwa an die Türkei oder auch an Indien, autoritäre politische Kräfte durchgesetzt haben. Generell gehen ökonomische und auch kulturelle Erklärungen davon aus, dass die Menschen mit spezifischen Politiken unzufrieden sind und sich deshalb den autoritär-populistischen Parteien zuwenden. Umfragen zeigen aber, dass der Unzufriedenheit zumeist eine Systemkritik an der politischen Klasse und den „Systemparteien“ zugrunde liegt. Die ökonomische Zufriedenheit ist hingegen relativ hoch und die Gleichstellungspolitiken werden breit unterstützt.

BZ: Und wie sieht nun Ihre politische Erklärung des Aufstiegs des autoritären Populismus aus? Wieso hat er in Ihren Augen in vielen etablierten Demokratien neuerdings Rückenwind bekommen?

MZ: Die politische Erklärung besagt, dass es die Unzufriedenheit mit der Funktionsweise des politischen Systems ist, die von den autoritären Populisten für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Zum einen fühlen sich viele Menschen durch ihre Parlamente nicht angemessen repräsentiert. Es wird eine professionalisierte politische Klasse und Blase wahrgenommen, die abgehoben von den Interessen der Wähler, Wählerinnen agiert. Zum anderen sind in den letzten drei Jahrzehnten in beachtlichem Ausmaß Entscheidungskompetenzen von Mehrheitsinstitutionen (MIs) wie Parlamenten hin zu nichtmajoritären Institutionen (NMIs) wie Zentralbanken, Verfassungsgerichten und internationalen Institutionen verlagert worden. Entscheidungen werden zunehmend von Institutionen getroffen, die weder dem Mehrheitsprinzip noch den Rechenschaftspflichten repräsentativer Gremien unterliegen. Der Zweck vieler NMIs besteht darin, den dreifachen Liberalismus aus individuellen Rechten, internationalen Regeln und offenen Märkten durchzusetzen.

BZ: Und diese Verlagerung von Entscheidungskompetenzen begünstigt den Populismus?

MZ: Ja, denn vor dem Hintergrund der beiden genannten Mechanismen entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, sie würden von der Politik nicht länger wahrgenommen – und dieser Eindruck hat eine reale Grundlage. Nicht alle Gruppen haben die gleiche Chance, dass ihre Anliegen gehört und politisch umgesetzt werden. Das ist der Hintergrund, vor dem sich die Vorstellung ausbreiten konnte, es gebe eine homogene politische Klasse, die abgehoben von der Bevölkerung ihr Ding macht und dabei den Interessen einer verwöhnten und tendenziell korrupten kosmopolitischen Schicht dient. Dementsprechend scheinen die Zielscheibe der allermeisten autoritär-populistischen Kampagnen auch gar nicht bestimmte ökonomische oder kulturelle Politiken zu sein, sondern das „System“, das sie hervorbringt.

BZ: Und der Aufstieg nichtmajoritärer Institutionen befördert diese „Systemwahrnehmung“? Ist das als Behauptung oder auch als Frage gemeint? Wie konnte es dazu kommen?

MZ: Nichtmajoritäre Institutionen wie Verfassungsgerichte, Zentralbanken und regulatorische Behörden haben seit den 1970er Jahren an Bedeutung gewonnen. Hinzu kommt der Bedeutungsgewinn der EU und anderer internationaler Organisationen, die in den letzten Jahrzehnten gleichfalls Autoritätsgewinne verbuchen konnten. Gerade die globalen Krisen der letzten 15 Jahre zeigen, wie wichtig solche Institutionen und wie sehr Parlamente zu Nebenschauplätzen geworden sind. Die EZB, nächtliche Gipfeltreffen in Brüssel, das RKI und seine Epidemiologinnen waren entscheidend für den Umgang mit der Finanz- und der Coronakrise. Die Entscheidungen, die von diesen Institutionen getroffen wurden, folgten der Logik der liberalen Kosmopoliten: Individualrechte, offene Grenzen und die Stärkung internationaler Institutionen standen im Vordergrund. Das widerspricht dem Kommunitarismus der autoritären Populisten, die für verschärfte Grenzziehung und nationalistische Politiken stehen.

BZ: Aber ist es wirklich so, dass die nichtmajoritären Institutionen einen „kosmopolitischen bias“ aufweisen? Bei den Verfassungsgerichten scheint das so zu sein, aber bei den Zentralbanken und anderen Regulierungsbehörden wie der Börsen- oder der Bankenaufsicht ist dieser bias doch nicht so offensichtlich. Diese Institutionen mögen zwar nicht gerade kommunitaristisch sein, aber sind sie kosmopolitisch?

MZ: Der kosmopolitische Bias trifft mit Sicherheit vor allem auf die internationalen und regionalen Organisationen zu, die ja ganz erheblich zur Entmachtung der Parlamente beitragen. Generell gilt das Argument, dass die nichtmajoritären Institutionen, die durch die alten Volksparteien ermächtigt wurden, so gestaltet worden sind, dass sie für Links und Rechts einen Schutz gegen eine Mehrheitsregierung der anderen Seite beinhalteten. Das machte sie in dieser Auseinandersetzung neutral. Dort aber, wo die alten Volksparteien gemeinsam gegen die autoritären Populisten stehen – also die Frage der offenen Grenzen, der Individualrechte und der Befürwortung internationaler Integration –, dort verlieren sie ihre Neutralität.

BZ: Könnte es nicht sein, dass es gerade das Neutrale ist, das die Populisten gegen die nichtmajoritären Institutionen aufbringt? Schließlich verleumden sie alle neutralen Instanzen einschließlich der Presse, der Wissenschaft und der Gerichte als interessengeleitet. Mit anderen Worten: Sind die nichtmajoritären Institutionen aus Ihrer Sicht wirklich „biased“ oder werden sie von den Populisten nur als „biased“ denunziert?

MZ: Ganz sicher hat die Entwicklung zwei Seiten. Zum einen die von mir beschriebene Veränderung der „objektiven“ Bedeutung der Institutionen angesichts einer neuen Konfliktlinie. Zum anderen aber auch der strategisch gezielte Versuch der autoritären Populisten, die „Neutralen“ zur Partei zu machen. Die Trumps dieser Welt fahren in der Tat eine gezielte Attacke, um die aus ihrer Sicht nur scheinbar Unparteiischen wie insbesondere die Qualitätsmedien zur Partei zu machen. Ohne Schiedsrichter foult es sich halt besser. Mittels dieser Strategie gelang es, die negative Berichterstattung über die Trump-Administration zu vermehren, aber eben gleichzeitig zu entschärfen.

BZ: Und warum gelingt es den Populisten heute, neutrale Institutionen als „biased“ zu verleumden? Warum wird das heute mehr geglaubt als vor vielleicht zwei oder drei Jahrzehnten?

MZ: In der Tat glaube ich, dass es „reale“ Veränderungen sind, die den Erfolg dieser Strategie erklären. Es waren schon immer vor allem ältere, weiße, weniger gebildete und schlechter ausgebildete Männer, die rechtsradikale Parteien überdurchschnittlich oft gewählt haben. Das erklärt uns aber nicht, warum sich diese Wählerschaft verzehnfacht hat. Dazu müssen wir Verschiebungen in unserer Gesellschaft in den Blick nehmen. Der exklusive Blick auf die Merkmale und die Strategien der autoritären Populisten hindert uns jedenfalls zu verstehen, was wir ändern können, um den autoritären Populismus zu schwächen.

BZ: Was können wir denn aus Ihrer Sicht ändern, um den Aufstieg des autoritären Populismus umzukehren?

MZ: Der Aufstieg des autoritären Populismus verweist in der politischen Erklärung auf Defizite in der Funktionsweise der liberalen Demokratie. Er ist aber nicht die Rettung, sondern eine Gefahr für diese Regierungsform. Im Ergebnis sehen wir ein demokratisches Dilemma: Während die wachsende Komplexität der Entscheidungsverfahren in globalisierten und pluralisierten Kontexten zur Entfremdung von der Demokratie führt, untergräbt die Antwort der Vereinfachung durch Renationalisierung und Homogenisierung die institutionellen Grundlagen der Demokratie. Was also tun? Es kann m.E. nur eine Antwort geben: Mehr Demokratie wagen und die Komplexitätstoleranz in unserer Gesellschaft stärken.

BZ: Herr Zürn, ich danke Ihnen im Namen des CAS ganz herzlich für das Gespräch.


Bernhard Zangl ist Inhaber des Lehrstuhls für "Global Governance and Public Policy" am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München. Im akademischen Jahr 2018/19 leitete er am CAS die Research Group "Power Shifts and Institutional Change in International Institutions".

Zu seinen aktuellen Publikationen zählen: Global Power Shifts: How Do International Institutions Adjust?, Special Issue von „Global Policy“, 2020 (herausgegeben mit Andreas Kruck); The Governor's Dilemma. Indirect Governance Beyond Principals and Agents, Oxford 2020 (herausgegeben mit Kennth Abbott, Philipp Genschel und Duncan Snidal); International Organization. Polity, Policy, and Politics, 3. Auflage Houndsmills 2019 (mit Volker Rittberger and Andreas Kruck und Hylke Dijkstra).

Das Gespräch von Michael Zürn und Bernhard Zangl geht auf einen Vortrag zurück, den Michael Zürn unter dem Titel „Repräsentation in der Krise“ am CAS gehalten hat (28. Januar 2021) und der auf der Website des CAS als Video verfügbar ist.

Michael Zürn, Zum Aufstieg des autoritären Populismus. Michael Zürn im Gespräch mit Bernhard Zangl, CAS LMU Blog, 14 April 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/21
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