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Wie resilient ist unsere Politische Kultur?

Gunnar Folke Schuppert, 22 February 2021

1. Was ist Resilienz?

Dieser kleine Beitrag beginnt sinnvollerweise mit der Klärung des Resilienzbegriffs. Wenn ich recht sehe, kann man zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff der Resilienz unterscheiden: die Anpassungsperspektive und die Verarbeitungsperspektive. Die Anpassungsperspektive findet sich – um ein Beispiel zu geben – in Reinkultur im Ausschreibungstext der Notre Dame University für die Gewinnung von „Fellows on Resilience“, in dem es wie folgt heißt: „This project brings together humanists, scientists, social scientists, legal scholars, and artists to consider how organisms, people, species, and social structures adapt or fail to adapt to novel challenges […].“ Das Zauberwort heißt also Anpassung. Bei der Verarbeitungsperspektive geht es darum, herauszufinden, wie bestimmte Kollektive wie etwa Städte, Organisationen oder ganze Gesellschaften mit Naturrisiken und Sozialkatastrophen fertig werden, d.h. wie sie es schaffen, an ihnen nicht zu zerbrechen, sondern sie – auf welche Weise auch immer – zu verarbeiten. Diese Verarbeitungskompetenz ist für mich der eigentliche Kern von Resilienz: Die gegenwärtige, von uns allen zu verarbeitende Corona-Pandemie scheint mir dafür ein gutes Beispiel zu sein.

2. Vier Strategien, um Katastrophenerlebnisse zu verarbeiten

Verarbeitung durch religiöse Sinngebung

Als Beispiel dafür kann dienen, wie die Zeitgenossen darauf reagiert haben, als im Dezember 1618 über weiten Teilen Deutschlands ein Komet mit langem rötlichem Schweif zu sehen war. Dies konnte – so die damalige Lesart – nur als von Gott gesandtes Zeichen bevorstehenden Unheils verstanden werden. Hier half nur eins: Verarbeitung durch innere Einkehr und Bußfertigkeit.

Die idiomatische Wendung von der „stiff upper lip“ – ein wirkmächtiges Klischee britischer Katastrophentoleranz

Diese Redewendung oder Formel fungiert im Vereinigten Königreich als gängiges Kürzel für das Phänomen britischer Schicksalsergebenheit, die es den Briten erlaubt, mit den größten Widrigkeiten fertig zu werden, seien dies die im Zweiten Weltkrieg verfügten Rationierungen oder die zu erduldenden Verspätungen der Eisenbahn. Erst heißt es, Tee zu trinken und dann nicht etwa die Achseln zu zucken (wie wir dies tun würden), sondern sich – mit steifer Oberlippe – in sein Schicksal zu ergeben. Dieses Beispiel liegt mir deshalb am Herzen, weil es zu zeigen vermag, dass die Strategien zur Verarbeitung allfälliger Katastrophen kulturell eingebettet sind.

Auch wenn das Poster in seiner Entstehungszeit, 1939, wohl kaum plakatiert wurde, steht es heute für die sinnbildliche britische Gelassenheit bei der Bewältigung von Krisen.

Bewältigung von Katastrophenfolgen durch solidarische Netzwerke

Ein insbesondere von Anthropologen gern zitiertes Beispiel für diese Art der Katastrophenverarbeitung sind die häufig von Wirbelstürmen heimgesuchten Philippinen, in denen sich – gerade im Hinblick auf die schwache und weit entfernte Zentralregierung – Strukturen herausgebildet haben, die als Netzwerke gegenseitiger Hilfe und Unterstützung fungieren.

Verdrängung und Wille zum Neuanfang

Mit dieser Formulierung nehme ich Bezug darauf, wie die Deutschen versuchten, mit den katastrophalen Verwüstungen fertig zu werden, denen sie sich 1945 nach Beendigung des Krieges gegenübersahen. Man kann eine Strategie der Verdrängung, gepaart mit dem Willen zu einem neuen Anfang diagnostizieren. Aber das war noch nicht alles: Die totale militärische, politische und moralische Katastrophe verlieh dem Narrativ eines vereinten, friedliebenden und Wohlstand versprechenden Europa einen schier unwiderstehlichen Glanz; ein Narrativ, das aller Anstrengungen wert erschien und vor dessen Verblassen wir heute mit einer gewissen Ratlosigkeit stehen.

Wenn wir an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz ziehen, so fällt auf, dass es sich bei den geschilderten Beispielen von Verarbeitungsstrategien um solche handelt, die sich auf Ereignisse beziehen, die von den betroffenen Menschen überwiegend als externe Ereignisse wahrgenommen wurden bzw. – bei Verdrängung der eigenen Schuld – werden konnten. Kriege, Hungersnöte, Pandemien, Naturkatastrophen, Rationierung von Konsumgütern oder was auch immer. Wie aber können Verarbeitungsstrategien aussehen, wenn die Bedrohung bzw. Erosion der Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates gewissermaßen von innen kommen, von gewählten und legal ins Amt gekommenen politischen Führern? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach.

3. Was ist eigentlich „Politische Kultur“?

Dazu möchte ich einen Vorschlag zur Differenzierung des Begriffs machen, den ich bereits 2008 unterbreitet habe. Wenn ich mir ihn nunmehr erneut ansehe, und zwar unter dem Eindruck der ernsten Krise unserer politischen Kultur des demokratischen Verfassungsstaates, so erscheint mir diese Differenzierung überzeugender und hilfreicher denn je: denn was wir gegenwärtig in den USA, in Brasilien, in Ungarn, Polen oder Russland beobachten können, ist eine massive Veränderung der Kommunikations- und Konfliktkultur sowie eine permanente Infragestellung der bisherigen Institutionenkultur. Selbst die häufig nur eine Nebenrolle wahrnehmende Erinnerungskultur spielt im Kontext der gegenwärtigen Identitätspolitiken eine immer wichtiger werdende Rolle: Identitätspolitik als Erinnerungspolitik. Deshalb schlage ich vor, die folgenden vier Erscheinungsformen politischer Kultur zu unterscheiden:

  • Politische Kultur als Konfliktkultur,
  • Politische Kultur als Kommunikationskultur,
  • Politische Kultur als Institutionenkultur sowie
  • Politische Kultur als Erinnerungskultur.

4. Zur Debatte über constitutional resilience oder zum Missverhältnis zwischen Diagnosekompetenz und Therapievorschlägen

Der langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle hat auf einer Tagung der Tutzinger Akademie für Politische Bildung nicht nur eine Erosion des Rechts beklagt, sondern mit den folgenden klaren Worten eine „Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa“ diagnostiziert: Es „[…] wird deutlich, dass es uns nicht egal sein kann, was in Polen, Ungarn oder Rumänien geschieht. Die Erschütterungen, die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz […] für die Idee der Rechtsgemeinschaft auslösen, sind grundlegend […]. Zugriffe auf die unabhängige Verfassungsjustiz sind Angriffe auf die normativen Lebensadern aller der europäischen Idee verbundenen Länder.“

Auch unter den Teilnehmern des Workshops „Constitutional Resilience: How can a Democratic Constitution Survive an Autocratic Majority“ im November 2018 in Berlin war der Befund einer Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit unstreitig. Aber überzeugende Therapievorschläge blieben aus. In der Keynote-Speech wurde stattdessen auf die offensichtlich bisher folgenlosen Berichte der Venedig-Kommission verwiesen und die in ihren Umrissen vage bleibende constitutional culture beschworen. Nur Dieter Grimm sprach aus, worin die große Frage letztlich besteht: „Ultimately the question is always whether the citizens are willing to tolerate the change or resist.“

5. Die Krise der Demokratie – ein ebenfalls unstreitiger Befund

The triggering forces

Dass sich die Demokratie als Staats- und Lebensform in einer schweren Krise befindet, davon kündet die ständig anschwellende Untergangsliteratur, die den Blick überwiegend – und dies soll auch mein Beispiel sein – auf die USA richtet. Fragt man diejenigen Autoren, die auf die USA blicken – aber zum Teil auch auf Ungarn oder Polen –, so werden vor allem drei Gründe genannt, die zu einer Gefährdung der Demokratie beitragen, nämlich:

  • das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Demokratieverständnisse: die angeblich „wahre“ gegen eine vom politischen Establishment verfälschte Demokratie;
  • die zunehmende Polarisierung politischer Auseinandersetzungen: der politisch Andersdenkende ist nicht mehr der politische Gegner, sondern der Feind, der weder Anerkennung noch Respekt verdient;
  • das Phänomen abgeschotteter Wissenswelten und geschlossener kultureller Eigenwelten: Auseinanderentwicklung der Realitätswahrnehmungen zwischen den politischen Lagern und ihre Separierung in streng voneinander abgeschottete Wissenswelten.

Zur Erosion der informalen Verfassungsregeln

Noch sind die Institutionen der Demokratie formal intakt. Was aber zerstört worden ist und weiterhin wird, ist etwas, was die Autoren des Bestsellers „How Democracies Die“ – Steven Levitsky und Daniel Ziblatt – informale demokratische Normen als Leitplanken der amerikanischen Demokratie nennen. Es sind dies zwei Prinzipien angemessener Amtswahrnehmung, die sie als Prinzip der gegenseitigen Achtung und der zurückhaltenden Kompetenzausnutzung charakterisieren. Von beiden ist unter der Präsidentschaft Trumps nichts zu spüren gewesen, im Gegenteil. Es handelt sich daher – dies ist meine These – bei der Gefährdung der Demokratie weniger um eine Zerstörung von Institutionen oder um die gezielte Verletzung von Verfassungsrechtsnormen, sondern um einen Angriff auf die politische Kultur des demokratischen Gemeinwesens, seine Kommunikations- und Konfliktkultur, sowie auch – soweit Institutionen von innen ausgehöhlt werden – der Institutionenkultur.

6. Worauf könnte man bauen?

Eine starke Zivilgesellschaft?

Abgesehen davon, dass ich immer ein wenig skeptisch bin, wenn die sog. Zivilgesellschaft wie ein Allheilmittel aus dem Hut gezaubert wird, wird jeder, der auf die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Demokratie durch die Kräfte der Zivilgesellschaft vertrauen will, erklären müssen, wie dies glücken kann, wenn nach einhelligem Befund die Gesellschaft des jeweiligen Landes – denken wir an Polen oder die USA – zutiefst gespalten ist. Das Problem besteht ja gerade darin, dass sich das Virus der Polarisierung durch alle gesellschaftlichen Bereiche frisst, und sogar vor dem als unpolitisch geltenden Sport nicht haltmacht.

Ein funktionsfähiges Wächteramt von Presse, Rundfunk und Fernsehen?

Auch hier sind kritische Anmerkungen unumgänglich. So hat Philip Manow mit guten Gründen einen Prozess der Entmediatisierung ausgemacht, also einen Prozess des zunehmenden „Überflüssig-Werdens“ der klassischen, zwischen Gesellschaft und Politik vermittelnden Medien, wie Presse und Rundfunk: „Die Zugangshürden für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs sind drastisch gesunken […]. Die Politik selbst umgeht ebenfalls zunehmend die Vermittlerrolle der Presse (die ja auch immer mit einer kritischen Kontrollfunktion verbunden ist) und kommuniziert stattdessen per Twitter, Instagram, Facebook, YouTube usw. lieber direkt mit ihrem Publikum.“ Kurzum: beobachtbar sei, dass die klassischen Vermittlungsinstanzen obsolet würden und damit der Verlust ihrer Filterfunktion einhergehe.

Resilienz des Institutionengefüges?

Ein gern verwendetes Zitat lautet: „Beginnt das politische System zu schlingern, schlingern alle Institutionen mit.“ Dafür, dass diese Aussage von Christoph Möllers zutrifft, könnten die nachfolgenden zwei Beobachtungen sprechen.

  • Die erste Beobachtung ist die systematische Kaperung der Justiz durch die Republikaner, eine Strategie, die sich keineswegs auf die Besetzung der Richterstellen beim Supreme Court beschränkt. Diese Machtübernahme durch die Besetzung von 107 offenen Stellen an verschiedenen Bundesgerichten wurde vor allem von dem mächtigen republikanischen Mehrheitsführer McConnell ins Werk gesetzt, der im Frühjahr 2019 diese Stellenbesetzungspolitik wie folgt kommentierte: „So viele konservative Richter an den Gerichten platziert zu haben, ist das Wichtigste, was wir für das Land getan haben.“
Treppenhaus des Supreme Court in Washington DC. © Ramesh lalwani, via Wikimedia Commons.
  • Die zweite Beobachtung bezieht sich auf den offenbar stattgefundenen Wandel der Redaktionskultur in der renommierten „New York Times“. Wie ehemalige Mitarbeiter berichten, habe sich vor allem in den Jahren der Trump-Administration ein Klima der Polarisierung und des Freund-Feind-Denkens ausgebreitet, das die Institution gewissermaßen von innen – also ganz ohne explizite Einwirkung von außen – in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigte.

7. Fünf letzte Sätze

Der Schlüssel für die Beantwortung der unvermeidlichen Frage, was zu tun ist, liegt m. E. in dem schon zitierten Satz von Dieter Grimm, nach dem es darauf ankommt, „whether the citizens are willing to tolerate the change (zur Erosion der Demokratie, G.F.S.) or resist“. Diese „resistance“ könnte sich nach meinem Dafürhalten auf zweierlei Weise äußern, nämlich einmal im Willen zur Verfassung, zum anderen im Willen zur Rückeroberung desjenigen Terrains, das im Bereich der demokratischen Konflikt- und Kommunikationskultur verloren gegangen ist: Eine offene parlamentarische Streitkultur, deren Debatten Widerhall in den Medien – sowohl den klassischen als auch den „neuen“, „sozialen“ Medien – finden. Dass diese notwendige Rückeroberung gelingt, lässt sich als Aufgabe an niemanden delegieren. Jeder von uns ist aufgerufen, in seinem sozialen Wirkungskreis dazu beizutragen.

Andreas Bähr, Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Reinbek bei Hamburg 2017.

Christoph Grabenwarter, Constitutional Resilience, in: Verfassungsblog, 6.12.2018.

Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung. Freiburger Antrittsvorlesung, Tübingen 1959.

Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben, München 2019.

Torben Lütgen, Amerika im kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert, Darmstadt 2020.

Philip Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay, Berlin 2020.

Christoph Möllers, Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur (71) 2017, Heft 818, S. 5–16.

Nele Pollatschek, Dear Oxbridge. Liebesbrief an England, Berlin 2019.

Gunnar Folke Schuppert, Wie resilient ist unsere Politische Kultur?, CAS LMU Blog, 22 February 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/17
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