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Zu den Versuchungen des Verschwörungs­denkens – warum wir vor ihnen auf der Hut sein sollten

Gunnar Folke Schuppert, 17 November 2022

Der erste Grund, warum wir Verschwörungstheorien mit Skepsis begegnen sollten, ist, dass sie fast dazu einladen, sie für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Die Mär von der ,,jüdischen Weltverschwörung‘‘ diente den Nationalsozialisten als eines der Rechtfertigungsnarrative für ihre antisemitische Gewaltpolitik bis zum Genozid an den europäischen Juden. Die sogenannte ,,Dolchstoßlegende‘‘ vom deutschen Heer, dem – auch 1918 im Felde noch unbesiegt – durch die sozialistische Revolution in den Rücken gefallen wurde, diente dem rechts-nationalistischen Milieu für seinen Kampf gegen das ,,System von Weimar‘‘. Und Putins Verschwörungsszenario von der Einkreisung und Bedrohung Russlands diente ihm offensichtlich zur Rechtfertigung seines Überfalls auf die Ukraine.1 Wie man aus diesen Beispielen lernen kann, kommt es auf den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Verschwörungstheorie nicht an. Entscheidend ist, dass sie geglaubt wird, was insbesondere durch eine suggestive Bildersprache befördert wird.

Propagandapostkarte, erstmals 1924 veröffentlicht, zur sog. "Dolchstoßlegende". Bild: Public domain

Die Sprache der Verschwörungstheorien ist – zweitens – eine bilderreiche Sprache. Sie wird bestimmt von den ihnen zugrundeliegenden Weltbildern, Selbstbildern und Fremdbildern, die stets dazu neigen, zu Feindbildern zu mutieren. Wie das Weltbild Putins von seiner historischen Mission zur Wiederherstellung russischer Größe die Unterwerfung der Ukraine rechtfertigen soll, so zeigt der in den USA beobachtbare Kulturkampf zwischen Republikanern und Demokraten, wie ein Fremdbild zum Feindbild umschlägt. Feinde – so die Botschaft dieser Semantik – sind notfalls auch mit Gewalt niederzuringen.

6. Januar 2021: Sturm auf das Kapitol in Washington D.C., USA. Bild:
Wikimedia Commons

Ein dritter Grund, die gegenwärtige Karriere von Verschwörungstheorien mit Wachsamkeit zu begleiten, liegt darin, dass sie sich viral verbreiten und im Internet allgegenwärtig sind. Im Hinblick auf die Corona-Pandemie kann man daher – so Niall Ferguson – von einer ,,Doppel-Pandemie‘‘ sprechen, einer biologischen und einer informationellen. Um diesen Befund auf den Begriff zu bringen, schlägt Ferguson vor, von einer ,,Infodemie‘‘ zu sprechen, die sich wie das Corona-Virus selbst über netzwerkartige Strukturen medial verbreitet. Verallgemeinernd gesprochen wird man daraus zu lernen haben, dass die Geschichte des Verschwörungsdenkens mit der Mediengeschichte zusammengedacht werden muss – von den Flugblättern der Frühen Neuzeit über die geheimbündlerischen Netzwerke der Freimaurer und Illuminaten bis zur digitalen Kommunikation im Internet.

Eine Streitschrift aus dem Jahr 1570 gegen Georg Nigrinus Battimontanus und Matthias Ritter von Johannes Nas (1534–1590), einem scharfen Gegner der Reformation. Bild: Public domain

Was nun die medialen Eigenschaften des Internets angeht, lassen sich die folgenden drei der Verbreitung von Verschwörungstheorien förderlichen Effekte identifizieren und stichwortartig benennen: Den ersten Effekt könnte man als ,,ergooglete Wirklichkeit‘‘ bezeichnen. Jedermann kann sich aus dem reichhaltigen Angebot des Internet seine eigene Verschwörungserzählung zusammenbasteln. In diesem Sinne ist jeder nicht nur seines Glückes, sondern auch seiner Wirklichkeit Schmied. Den zweiten Umstand möchte ich ,,Digitaler Tribalismus‘‘ nennen, womit das Phänomenen gekennzeichnet werden soll, dass vielfältige, im Netz zu findenden Komplottangebote das Lagerdenken begünstigen beziehungsweise eine identitäre Lagerbildung noch verstärken. Drittens ist zu beobachten, dass sich im Internet neue Relevanzordnungen mit neuen Relevanzkriterien herausbilden. Zunehmend werden Meinungen relevant, die von ,,Influencern‘‘ verbreitet werden, deren Meinungsmacht sich wiederum an der Anzahl ihrer ,,Follower‘‘ bemessen lässt.

Viertens schließlich stimmt an dem digital verbreiteten Verschwörungsdenken bedenklich, dass in ihm eine „Kultur des Misstrauens“ propagiert wird. Eine Befund, der automatisch die Frage aufwirft, wie viel Misstrauen eigentlich der Demokratie zuträglich ist. Nicht beliebig viel, ist unsere Auffassung. Selbst bei denjenigen Autoren und Autorinnen, die zahlreiche Symptome einer Demokratiekrise ausgemacht haben, besteht Konsens darüber, dass ein gewisses Grundvertrauen der Regierten in die politischen Institutionen ihres Gemeinwesens für die Funktionsfähigkeit demokratischer Gesellschaften unerlässlich ist. Ein Grundvertrauen wiederum, das nicht mit bedingungsloser Folgebereitschaft zu verwechseln ist. In diesem Sinne brauchen Demokratien skeptische Bürger, die Anspruch darauf haben, dass die Maßnahmen der Regierung einseh- und nachvollziehbar begründet und entsprechend kommuniziert werden. Davon zu unterscheiden ist aber die Hofierung eines grundsätzlichen Misstrauens, das hinter allem und jedem nur manipulative Unwahrheiten erkennen kann und will. Wie eine der großen Richterpersönlichkeiten des Bundesverfassungsgerichts – Helmut Simon – es einmal ausgedrückt hat: ,,Gegenüber der Demokratie bedarf es einer Haltung kristischer Solidarität mit der verbesserungsfähigen, aber auch verbesserungsbedürftigen demokratischen Ordnung, in der zu leben wir das große Privileg haben.‘‘

So bleibt zum Schluss noch die Frage, wie das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen gestärkt werden kann. Ganz sicher gehört dazu eine ehrliche, den Bürger ernstnehmende und ihn einbeziehende Krisenkommunikation. Denn die Fragen, welche Maßnahmen zur Bewältigung der gegenwärtig virulenten Krisen ergriffen werden müssen, müssen auch in den Kommunikationsprozess zwischen Staat, Individuum und Gesellschaft eingespeist und dort auch ausgehandelt werden: „Daran zeigt sich der Grad der Emanzipation, den die Politik ihren Bürgern zuzugestehen bereit ist (…) Erst auf diese Weise kann (…) die Widerständigkeit, die Stabilität und die integrative Fähigkeit eines Gemeinswesens mobilisiert werden“ (Benno Zabel).

  1. Siehe den Beitrag von Nataliia Kovalchuk in diesem Blog.

Literatur

Niall Ferguson, Doom: Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft, München 2021.

G.F. Schuppert, Wie resililient ist unsere ,,Politische Kultur‘‘ ?, in: DER STAAT 60 (2021), S. 473-493.
Siehe außerdem den Beitrag von G.F. Schuppert in diesem Blog.

G.F. Schuppert, Verschwörungstheorien und digitale Demokratien, in: Die Rechtswissenschaft 13 (2022), S. 28-60.

Benno Zabel, Recht, Angst, Vulnerabilität. Liberale Gesellschaften zwischen Krise und Resilienz, in: Rechtswissenschaft 2020, S. 233-261.

Gunnar Folke Schuppert, Zu den Versuchungen des Verschwörungs­denkens – warum wir vor ihnen auf der Hut sein sollten, CAS LMU Blog, 17 November 2022, https://doi.org/10.5282/cas-blog/42
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