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Selbstaufklärungsprozesse und Horizontverschiebungen. Zur Aktualität von Max Weber in China

Helwig Schmidt-Glintzer, 02 March 2021

Max Weber und die außereuropäische Kulturwelt

Auch wenn im Jahrzehnt vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs in Europa ferne Welten und darunter auch der Orient immer näher rückten, hat sich Max Weber doch erst während des Krieges mit dem Orient und dem Fernen Osten intensiver beschäftigt. Die ursprünglich „Konfuzianismus“, dann „Konfuzianismus und Taoismus“ betitelte Studie Max Webers, später oft als seine „China-Studie“ bezeichnet, hat zunächst wenig Aufmerksamkeit gefunden. Dagegen wurde „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ früh beachtet und weithin diskutiert. Diese Studie eröffnet zusammen mit „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ die von Max Weber selbst konzipierte und bis zu seinem Tode im Juni 1920 betreute Ausgabe der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“. Dann erst folgt die China-Studie, die den Auftakt bildet zur vermutlich weit umfänglicher geplanten, dann aber postum sich auf das Nachdrucken der vorliegenden Studien zu Indien und dem Antiken Judentum beschränkenden Aufsatzreihe „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche“ (1920, MWG I/19-22). Die China-Studie hatte Weber noch kurz vor seinem Tode stark überarbeitet. Mit der Gegenüberstellung unterschiedlicher Welthaltungen hatte sich Max Webers Fragestellung noch erweitert. Dies trug dazu bei, dass die China-Studie in den Gesammelten Aufsätzen nicht mehr schlicht „Konfuzianismus“, sondern „Konfuzianismus und Taoismus“ überschrieben wurde, weil er nach Abstufungen zwischen Weltbejahung und Weltverneinung suchte. Hinzu kommt, dass er persönlich einer „Schule des harten Asketismus“ und der Rolle der Sekten eine hohe Bedeutung beimaß, wie er oft bekundete.1

Poster der Konferenz „Between Appropriation and Refutation – On the Significance and Reception of Max Weber in China“, 2018. © Max Weber Stiftung, China Büro, und Institute of Humanities and Social Sciences an der Peking University.

Trotz der erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt intensiveren Beschäftigung mit China hatte Weber lange zuvor seine Blicke über den okzidentalen Erfahrungshorizont hinaus gerichtet und verstand nicht zuletzt seine methodologischen Überlegungen im Lichte möglicher universeller Geltung.2 Daher hat er ausdrücklich, oft aber auch unausgesprochen eine Fremdperspektive bei der Bestimmung von Geltungshorizonten einbezogen, wobei ihm gelegentlich „der Chinese“ als Referenzinstanz diente. So unterstrich er in seinem Objektivitäts-Aufsatz von 1904: „[…], dass eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muss“, auch wenn diesem „für unsere ethischen Imperative das ‚Gehör‘ fehlen kann“ (MWG I/7, S. 155).

Die von Weber gerne eingesetzten Gegenüberstellungen und begrifflichen Schematisierungen, gedacht als „idealtypische Orientierungsmittel“ (MWG I/19 S. 480), haben dann in starkem Maße das ihre dazu beigetragen, dass Webers Aussagen die Wirklichkeit zu verfehlen schienen und deswegen von den Fachdisziplinen nicht weiter beachtet wurden. Im Falle Chinas kommt hinzu, dass Max Weber, der von der „Stadt des Okzidents in ihrer Einzigartigkeit“ überzeugt war (MWG I/19, S. 87),3 auch China als „Land der großen ummauerten Städte“ sah, daraus dann aber den Unterschied bzw. den Gegensatz zwischen China und dem Okzident ableitete. Dieser Blick auf die Städte stand bei der Mehrheit derjenigen, die sich mit China beschäftigten, nicht im Vordergrund, und erklärt, warum Max Weber dort wenig Aufmerksamkeit fand, vor allem weil die damalige auf China bezogene sozialwissenschaftliche Forschung sich nach der Oktoberrevolution vor allem auf die Erforschung der Agrarverhältnisse gerichtet hatte.

Agrarverhältnisse und Landreformen

Diese Ausrichtung auf den ländlichen Raum hängt auch damit zusammen, dass es in China selbst, angeregt durch eine in Japan seit längerem lebendige „Neudorf“-Bewegung, ländliche Reformbewegungen gab (Birk 1998). Zeugnisse dieser Bewegung finden sich heute noch in Stadtviertelbezeichnungen, etwa in Shanghai. Ein Teil dieser in den 1920er und 1930er Jahren die Agrarverhältnisse in den Vordergrund des Interesses rückenden Bewegung war auch die sich um Mao Zedong formierende, auf Landreformen gerichtete kommunistische Bewegung. Die Untersuchungen Mao Zedongs über die Bauernbewegung in seiner Heimatprovinz Hunan verdeutlichen dies. Dort begann Mao seine Überlegungen zur Rolle des Dorfes bei den anzustrebenden gesellschaftlichen Veränderungen zu entwickeln. Während zahlreiche Forscher in China die Erforschung der Agrarverhältnisse durch repräsentative Erhebungen und lokale Studien vorantrieben, wie etwa die 1930 veröffentliche Studie „Chinese Farm Economy. A Study of 2866 Farms in Seventeen Localities and Seven Provinces in China“ von John Lossing Buck, der in Nanjing lehrte, stellten sich andere in die Tradition sozialistischer oder ausdrücklich marxistischer Deutungstraditionen, wie der sich als „Sozialwissenschaftler“ verstehende und von der „bürgerlichen Sinologie“ absetzende Karl August Wittfogel. Bei seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft Chinas“, dessen Titel das Hauptwerk Max Webers aufruft, ohne dass sich Wittfogel auf ihn ausdrücklich bezieht, hatte er sich gleichwohl von dem „jungen Sinologen Stefan Balázs“ helfen lassen (Wittfogel 1931, S. XIII), jenem Sinologen, der sich selbst dann einige Zeit später ausdrücklich auf Max Weber berufen sollte, worauf wiederum Rolf Trauzettel hingewiesen hat (Trauzettel 1967). Es findet sich also eine kontinuierliche, zum Teil aber auch verdeckte Bezugnahme auf das Werk Max Webers in den sozial- und staatswirtschaftlich orientierten Chinawissenschaften.

Der Gegenüberstellung marxistischer und bürgerlicher Wissenschaft sowie dem Verweis auf Max Weber einerseits und auf Karl Marx andererseits trat eine weitere Kontrastierung an die Seite, ausgehend von der Frage, ob westliche Lehren und Theorien überhaupt dazu geeignet seien, die Besonderheit Chinas zu erfassen. So hatte Max Weber die Spezifik der Stadt-Land-Beziehung zwar in seiner idealtypisch vorgehenden Analyse adressiert, doch obwohl er die begrenzte Reichweite solcher Typisierung selbst einräumte, trugen Sätze wie „Indien ist und war, im Gegensatz zu China, ein Land der Dörfer.“ (MWG I/20, S. 49) mit dazu bei, dass wegen solcher Zuspitzungen und auf die Herausarbeitung von „Idealtypen“ gerichteter Fragestellungen die sozialwissenschaftliche Forschung in China ebenso wie die Sinologie eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Werk Max Webers pflegte.

Dennoch blieb gerade in Gesellschaften, welche einen eigenen Weg in die Moderne suchten, Max Webers Soziologie attraktiv. In Japan, wo in den 1930er Jahren erste Übersetzungen erschienen, interessierten sich Sozialwissenschaftler verstärkt für Max Weber (Arnold-Kanamori 1999, S. 240). Dieses Interesse steigerte sich dort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer regelrechten Max Weber-Mode und erhielt Auftrieb in den Auseinandersetzungen über den weiter einzuschlagenden Entwicklungspfad und die spezifische Sozialgeschichte und Identität Japans, besonders in Kreisen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

Natürlich konnte ein Interesse an Max Weber auch in China nicht ausbleiben, zumal die von Weber festgestellte universelle Geltung bestimmter Modernisierungsparameter eine Herausforderung darstellte. Dort debattierte man aufs Heftigste die Frage, ob sich China vollständig verwestlichen müsse. Vor diesem Hintergrund verfasste Fei Xiaotong (1910–2005), die wichtigste Gestalt für die Einrichtung einer modernen Soziologie in China, eine – ungedruckt gebliebene – Arbeit zu Max Webers Protestantismus-Studie, die er in englischer Übersetzung gelesen hatte. Zuvor hatte er an der Universität London studiert und 1938 seinen PhD bei Bronislaw Malinowski mit der Arbeit Peasant Life in China (London/New York 1939) erworben. Fei Xiaotong wollte aus eigener chinesischer Perspektive der Frage nachgehen, welche – in Webers Worten – „Verkettung von Umständen“ dazu geführt hat, „dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“4

Fei Xiaotong (1910–2005), einer der Gründerväter der modernen Soziologie in China, hat die Rezeption Max Webers in China entscheidend geprägt.

Fei Xiaotong interessierten – in Max Webers Worten – „die in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln“ (MWG I/19, S. 85). Da er selbst zugleich die „universelle Gültigkeit“ der Kulturerscheinungen des Okzidents anzweifelte, suchte er besagte Zusammenhänge in der chinesischen Wirklichkeit gründlich zu erkunden. Deswegen interessierte er sich besonders für das Dorf und für die Minderheitenvölker und natürlich bei den Stadt-Land-Beziehungen für die Beziehungen der Gentry und insbesondere der Landbesitzer zu den Landarbeitern, eine Frage, welche Max Weber nur insofern thematisiert hatte, als er den „Literatenstand“ als eine „literarisch gebildete weltlich-rationalistische Pfründnerschaft“ (MWG I/19, S. 86) mit dem Konfuzianismus als Standesethik gekennzeichnet hatte. Fei Xiaotongs Studien hierzu folgten entsprechend ganz anderen Fragestellungen (Hsiao-tung Fei 1953).

Die Gentry wurde in China vorwiegend mit den traditionellen Strukturen und mit dem Herrschaftssystem des Kaiserreiches identifiziert (Kung-chuan Hsiao 1960). Hingegen wurde der Bauernschaft insbesondere seit den 1920er Jahren die Rolle der auf Fortschritt gerichteten treibenden Kraft zugeschrieben, was sich noch mehr als ein halbes Jahrhundert später in der vielbeachteten Studie von Kate Xiao Zhou widerspiegelt, welche den Bauern den Erfolg der Öffnungspolitik der Ära Deng Xiaoping zuschreibt (Zhou Kate Xiao 1996). Diese Tendenz hält sogar bis heute an und schlägt sich etwa in den Bemühungen um eine Rehabilitierung ländlicher Räume nieder.5 Der Heroisierung der Bauernschaft haben sich auch im Westen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts viele Sozialwissenschaftler angeschlossen, wie Jan Myrdal in seinem 1963 ursprünglich auf Schwedisch erschienenen Buch „Bericht aus einem chinesischen Dorf“ (deutsch 1969). Auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur in sozialistischen Ländern war die Dorfgemeinde seit längerem Thema.6 Dort allerdings wechselten die Einschätzungen je nach ideologischer Präferenz, wie etwa auch unter sogenannten Linken in der Bundesrepublik Deutschland, wo der inzwischen in China unter den Bedingungen der Kulturrevolution ausgeschaltete und verfolgte Fei Xiaotong als Beispiel für die Verfolgung eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus galt, der, wie abschätzig betont wurde, eher zur Zusammenarbeit mit solchen Regierungen tendierte, die in zunehmendem Maße zu faschistischen Methoden griffen (Wagner 1974, S. 27). Fei Xiaotong wurde daher vorgeworfen, er habe die Natur der kommunistischen Bewegung als eine aus „Unzufriedenheit mit dem Landsystem“ gespeiste Bauernrevolte charakterisiert, die es durch eine Landreform und die staatliche Förderung kooperativer Nebenindustrien zu beschwichtigen gelte. Vor diesem Hintergrund sind die Worte, welche Fei Xiaotong im Januar 1981 als Laienrichter im Viererbandenprozess formulierte, besonders eindrücklich, als er sagte: „[…] während der ‚Kulturrevolution‘, als nichts intakt bleiben durfte, wurde auch die Herrschaft mittels des Gesetzes zerschlagen und Gesetzlosigkeit machte sich breit.“ Mit der Verhaftung der Viererbande im Jahre 1976 habe die ganze Nation begonnen, „mit schmerzendem Herzen, still die Vergangenheit zu studieren, fest entschlossen, niemals wieder eine solche Tragödie zuzulassen.“7

Seither haben sich die Sozialwissenschaften in China neu orientiert, und Max Weber spielt dabei eine zunehmend wichtige Rolle. Zeitweise war von einem regelrechten „Weber-Fieber“ die Rede. Während die Fragestellungen Max Webers als aktuell und anregend verstanden wurden, ist es wenig überraschend, dass das in der China-Studie gezeichnete Bild von China in nahezu jeder Hinsicht den in den Chinawissenschaften und in China selbst gewonnenen Kenntnissen und Erkenntnissen nicht mehr standhält. Dies wurde früh von sinologischer Seite konstatiert.8 Zur weiteren Nichtbeachtung Max Webers unter den Sinologen trug bei, dass sich bei genauerem Studium der bereits zu Max Webers Zeit zugänglichen Literatur viele seiner Aussagen auch im Lichte des seinerzeitigen Wissensstandes nicht mehr als haltbar erwiesen.9 Allerdings wurde dabei geflissentlich übersehen, dass mit den sachlichen Unzulänglichkeiten und Fehlern Max Webers seine Bemühungen um eine neue Begrifflichkeit unter Einbeziehung unterschiedlicher kultureller Traditionen nicht erschöpft sind, sondern sie weiter als Prüfstein für transkulturelle Verständigung und Analyse nützlich sein und sich als produktiv erweisen könnten. Daher ist auch für die Zukunft zu empfehlen, seine Texte nicht zu isolieren, sondern sie gerade im Hinblick auf ihre Intertextualität aufzugreifen und so nutzbar zu machen.10

Formen der Gemeinschaftsbildung und die Aktualität von Max Webers Fragestellung

Es ist unübersehbar, dass zahlreiche Themen und Blickrichtungen bei der Beschäftigung mit China, mit seiner Geschichte und Kultur ebenso wie mit den in neuerer Zeit sich vollziehenden Transformations- und Modernisierungsprozessen Anleihen bei Max Weber nehmen oder sich dabei doch Spuren Weber’schen Denkens zeigen. Selbst wenn Wang Hui in seinem Aufsatz „Weber and the Question of Chinese Modernity“ (2011) die Grundannahmen des Weber’schen Modernitäts-Begriffs in Frage stellt, befolgt er dann doch Webers Forderung der Anerkennung von „Eigengesetzlichkeit“, wenn er vorschlägt, „[…] that any analysis of Chinese ‚modernity‘ and its problems must first be placed in the perspective of the study of history and culture“. Dabei geht es Wang Hui gerade nicht um die Abwehr fremder Perspektiven und Begrifflichkeiten, sondern um eine Ausdehnung des Gesprächshorizontes und des Konzeptes der „Intersubjektivität“ bzw. des Habermas’schen Konzeptes des kommunikativen Handelns unter Einbeziehung anderer kultureller und sprachlicher Gemeinschaften/communities. Jürgen Habermas hat dies seinerseits erst jüngst mit dem Hinweis unterstrichen, dass wir nur im ständigen Bewusstsein des „partikularen Entstehungskontextes“ okzidentaler Rationalität für deren „universale Geltung“ plädieren können, weil wir nur so die Frage nach interkultureller Verständigung offenhalten. Hier fordert Habermas „von den eigenen Hintergrundüberzeugungen hypothetisch Abstand zu nehmen“ (Habermas 2019, Bd. 1, S. 128), eine Aufforderung, wie wir sie bereits bei Max Weber im oben angeführten Objektivitäts-Aufsatz finden.

An diesem Punkte wäre ein neuer Diskurs zu eröffnen, welcher die von Max Weber in seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft entfalteten Formen der Gemeinschaftsbildung, die dort bekanntlich eine zentrale Rolle spielen, mit Konzepten nationaler ebenso wie transnationaler Gemeinschaftsbildungs- und Modernisierungsprozesse verschränkt. Denn unabhängig von der Stadt-Land-Unterscheidung ist gerade für China ein spezifischer, auch die Familie transzendierender Gemeinschaftsbildungsprozess zu thematisieren. Ansätze hierzu sind in der Erforschung des chinesischen Mittelalters ebenso zu finden (Schmidt-Glintzer 1989) wie in der historischen Religionswissenschaft (Schmidt-Glintzer 1999) und wie auch ganz allgemein in historiografischen Debatten. Die, wie man heute sagen würde: „interreligiösen“ Auseinandersetzungen insbesondere im mittelalterlichen China zeigen dabei anschaulich, dass es auch in China eine lange Tradition von zum Teil polemisch argumentierenden, aber doch auf Aushandlung gerichteten Foren gab.11 Die Diskussion hierzu ist weiter im Gange und in ihr wird in vielfältiger Weise auf Max Weber Bezug genommen, nicht zuletzt bei der Erforschung regionaler Besonderheiten bis hin zur Dorfebene, wo etwa der Begriff des „Charisma“ eine nicht unerhebliche Rolle spielt.12 Leider wird dieser Diskurs zum Verhältnis von Recht und Moral13 ebenso wie zu Macht und Freiheit und Gerechtigkeit, einschließlich Nachhaltigkeit (Duara 2015), zwar in einigen Kreisen geführt, bleibt aber jenseits der Wahrnehmung der politischen Akteure und der öffentlichen geopolitischen Debatten und der durch sie befeuerten Emotionen.

Der Satz Max Webers, „der Chinese […] (sei) ebenso fähig, vermutlich noch fähiger“ als die Japaner, „sich den technisch und ökonomisch im neuzeitlichen Kulturgebiet zur Vollentwicklung gelangten Kapitalismus anzueignen“ (MWG I/19, S. 476), mag triumphierend gelesen werden, könnte aber auch wie eine Relativierung der oben zitierten Rede von der „Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit“ aufgefasst werden. Doch in der Bedrohlichkeit des frühen 21. Jahrhunderts sind wir geneigt, die Feststellung der Fähigkeit Chinas zur Aneignung des Kapitalismus im Zusammenhang mit einer anderen Rede Webers nur mit gesteigerter Verstörung aufzunehmen, in welcher er nämlich von einer an die Voraussetzungen „mechanisch-maschineller Produktion gebundenen“ Wirtschaftsordnung spricht, die den in dieses „Triebwerk“ Hineingeborenen einen Lebensstil aufzwingt, in dem sie gefangen bleiben werden, in Webers Worten: „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“14 Vielleicht ist es gerade die Ahnung von diesem Triebwerk, die heute nicht nur in China, sondern auch andernorts dazu anregt, eine Abkehr von der mit der westlichen Moderne verbundenen Entwicklungsrichtung zu erwägen.

  1. Siehe den Brief an Adolf Harnack vom 5.2.1906. MWG II/5, S. 32–33.
  2. Wilhelm Emil Mühlmann (1904–1988) hat daher auch Max Webers Methode der Kultursoziologie als „differentiell“ bezeichnet. Siehe W.E. Mühlmann, Max Weber und die rationale Soziologie, Tübingen 1966, S. 4 und 13.
  3. Siehe auch Hinnerk Bruhns/Wilfried Nippel (Hrsg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000.
  4. Max Weber, „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. MWG I/18, S. 101.
  5. Siehe The Songyang Story. Architectural Acupuncture as Driver for Rural Revitalisation in China, Zürich 2020.
  6. Siehe Eduard Erkes, Die chinesische Dorfgemeinde. Teil I und II, in: Forum. Zeitschrift für das geistige Leben an den deutschen Hochschulen. 1. Jahrgang (1947) Heft 4 und 6.
  7. Zitiert nach Daniel Leese, Maos Langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit, München 2020, S. 131.
  8. Arthur von Rosthorn, Religion und Wirtschaft in China, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München 1923, S. 219–233; Herbert Franke, Max Webers Soziologie der ostasiatischen Religionen, in: Karl Engisch/Bernhard Pfister/Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964, Berlin 1966, S. 114–130; Otto B. van der Sprenkel, Max Weber on China, in: History and Theory III 1964, S. 348–370.
  9. Siehe etwa Anselm Stolte, Gesellschaftsunternehmen und Gesellschaftsrecht in China und Europa. Ein Beitrag zur Max Weber-Forschung, Wiesbaden 2014.
  10. Siehe z.B. meinen Beitrag: Economy and Society and the Case of China. Some Remarks on Intertextuality in Max Weber’s Œuvre. 韦伯与«经济与社会», in: 讀書 2018–10, 1–9.
  11. Siehe hierzu Helwig Schmidt-Glintzer/Thomas Jansen, Religionsdebatten und Machtkonflikte. Veränderungen in den Machtverhältnissen im chinesischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 1. Jahrgang 1993, Heft 2, S. 50–90.
  12. Siehe Stephan Feuchtwang/Wang Mingming, Grassroots Charisma. Four local leaders in China. London/New York 2001. Vor dem Hintergrund solcher Studien und den Erfahrungen mit charismatischen Führerinnen und Führern in anderen Teilen der Welt wird man die These von Marco Haase, Max Weber habe mit dem Charisma-Konzept einen „Ausweg aus dem stählernen Gehäuse“ gewiesen, neu bewerten müssen. Siehe Marco Haase, Vom Sohn des Himmels zum charismatischen Führer. Max Webers Auseinandersetzung mit Konfuzianismus und Taoismus, in: Almut Hille/Gregor Streim/Pan Lu (Hrsg.), Deutsch-chinesische Annäherungen. Köln/Weimar/Wien 2011, S. 77–90.
  13. Siehe etwa Philip C.C. Huang, Morality and Law in China, Past and Present, in: Modern China 2015. Vol. 41(1), S. 3–39, der sich explizit auf Max Weber bezieht.
  14. MWG I/18, S. 486–487; WEWR I, S. 203. Siehe auch den Beitrag von Edith Hanke in diesem Blog.

Horst Arnold-Kanamori, Ôtsuka Hisao und die japanische Max Weber-Forschung, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwendtker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, Göttingen 1999, S. 235–255.

Klaus Birk, Die ländliche Aufbaubewegung in China 1926–1948, Bochum 1998.

Hinnerk Bruhns/Wilfried Nippel (Hrsg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000.

Prasenjit Duara, The Crisis of Global Modernity. Asian Traditions and a Sustainable Future, Cambridge 2015.

Stephan Feuchtwang/Wang Mingming, Grassroots Charisma. Four local leaders in China, London/New York 2001.

Herbert Franke, Max Webers Soziologie der ostasiatischen Religionen, in: Karl Engisch/Bernhard Pfister/Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964, Berlin 1966, S. 114–130.

Hsiao-tung Fei [Xiaotong Fei], China’s Gentry. Essays in Rural-Urban Relations, Chicago 1953.

Marco Haase, Vom Sohn des Himmels zum charismatischen Führer. Max Webers Auseinandersetzung mit Konfuzianismus und Taoismus, in: Almut Hille/Gregor Streim/Pan Lu (Hrsg.), Deutsch-chinesische Annäherungen, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 77–90.

Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Berlin 2019.

Philip C.C. Huang, Morality and Law in China, Past and Present, in: Modern China 2015. Vol. 41(1), S. 3–39.

Kung-chuan Hsiao, Rural China. Imperial Control in the Nineteenth Century, Seattle 1960.

Daniel Leese, Mao Langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit, München 2020.

W.E. Mühlmann, Max Weber und die rationale Soziologie, Tübingen 1966.

Arthur von Rosthorn, Religion und Wirtschaft in China, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München 1923, S. 219–233.

Helwig Schmidt-Glintzer, Der Literatenbeamte und seine Gemeinde, oder: Der Charakter der Aristokratie im chinesischen Mittelalter, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 139 (1989), S. 397–425.

Helwig Schmidt-Glintzer, Kommunale Aspekte des Daoismus. Religiöse Strukturen als Grundlage lokaler Sozialstrukturen, in: Josef Thesing/Thomas Awe (Hrsg.), Dao in China und im Westen. Impulse für die moderne Gesellschaft aus der chinesischen Philosophie, Bonn 1999, S. 283–294.

Helwig Schmidt-Glintzer, Economy and Society and the Case of China. Some Remarks on Intertextuality in Max Weber’s Œuvre. 韦伯与«经济与社会», in: 讀書 2018-10, 1–9.

Helwig Schmidt-Glintzer/Thomas Jansen, Religionsdebatten und Machtkonflikte. Veränderungen in den Machtverhältnissen im chinesischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 1. Jahrgang 1993, Heft 2, S. 50–90.

Otto B. van der Sprenkel, Max Weber on China, in: History and Theory III 1964, S. 348–370.

Anselm Stolte, Gesellschaftsunternehmen und Gesellschaftsrecht in China und Europa. Ein Beitrag zur Max Weber-Forschung, Wiesbaden 2014.

The Songyang Story. Architectural Acupuncture as Driver for Rural Revitalisation in China, Zürich 2020.

Rolf Trauzettel, Stabilität und Kontinuität der chinesischen Gesellschaft. Bemerkungen zum Werk des Sinologen Étienne Balázs, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 18 (1967), S. 264–277.

Rudolf Wagner, Der Kampf des thailändischen Volkes für Nationale Unabhängigkeit und Demokratie gegen Imperialismus und Feudalismus, in: Befreiung. Zeitschrift der Gesellschaft „Wissenschaft im Dienste der kämpfenden Völker Indochinas“, Nr. 2 (Mai 1974), S. 21–74.

Wang Hui, Weber and the Question of Chinese Modernity, in: Ders., The Politics of Imagining Asia. Cambridge, Mass./London 2011, S. 264–306.

Karl August Wittfogel, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas. Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer grossen asiatischen Agrargesellschaft. Erster Teil, Leipzig 1931.

Zhou Kate Xiao, How the Farmers Changed China. Power to the Peopl, Boulder, Col. 1996.

Helwig Schmidt-Glintzer, Selbstaufklärungsprozesse und Horizontverschiebungen. Zur Aktualität von Max Weber in China, CAS LMU Blog, 02 March 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/18
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