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Kritische Anmerkungen zu Andreas Anters Überlegungen zur Aktualität Max Webers in den Politikwissenschaften

Armin Engländer, 24 November 2021

In seinem in diesem Blog publizierten, am CAS gehaltenen Vortrag präsentiert Andreas Anter einige Überlegungen zur Aktualität Max Webers in den Politikwissenschaften.1 Bei näherer Betrachtung geben diese Gedanken freilich mehr Aufschluss über Anters politische Überzeugungen als über Webers politikwissenschaftliches Denken. Besonders fällt auf, dass Anter in seinen Ausführungen nahezu durchgehend einen wertenden Standpunkt einnimmt und dabei Webers deskriptive Begriffsbildungen und Erklärungen ohne viele Umstände normativiert. Für diese Normativierungen kann er sich indes nicht auf Weber berufen; ganz im Gegenteil stellen sie gleichsam eine Sünde gegen den Weberianischen Geist dar. Im Einzelnen:

1. Zu Anters Vernachlässigung des Weberschen Wissenschaftsverständnisses

Zentral für Webers Wissenschaftsverständnis der empirischen Wissenschaften ist das in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften entfaltete Prinzip der Wertfreiheit.2 Dieses besagt, dass der Sozialwissenschaftler für seine „praktischen Wertungen“, also Akte, mit denen er eine „durch unser Handeln beeinflussbare Erscheinung“3 billigt oder missbilligt, keinerlei wissenschaftliche Dignität beanspruchen kann. Sozialwissenschaftliche Feststellungen und wertende Stellungnahmen sind nach Weber strikt zu trennen. Zwar kann der Sozialwissenschaftler wahrheitsfähige Aussagen darüber treffen, mithilfe welcher Maßnahmen von ihm (oder anderen) positiv bewertete soziale Zustände herbeigeführt oder negativ bewertete Zustände beseitigt werden können, welche Nebenfolgen die entsprechenden Maßnahmen womöglich nach sich ziehen oder welche Unverträglichkeiten unter Umständen im Hinblick auf andere praktische Wertungen bestehen. Auch können praktische Wertungen als solche selbstverständlich zum Objekt sozialwissenschaftlicher Untersuchungen gemacht werden; es ist also möglich, wahrheitsfähige Aussagen über sie zu treffen. Stets bleibt es aber dabei, dass die praktische Wertung selbst einen Akt des Bekenntnisses und nicht der Erkenntnis darstellt. Das bedeutet: Soweit Weber in seinen politischen Schriften praktische Wertungen vornimmt, kommt diesen gemäß seinem eigenen Wissenschaftsverständnis kein wissenschaftlicher Charakter zu. (Für Anters Wertungen gilt danach natürlich dasselbe: sie sind nicht mehr als persönliche Bekenntnisse.) Zumindest missverständlich ist es deshalb, wenn Anter davon spricht, Weber habe politische Phänomene und Prozesse „von einem deutenden, einem wertenden Standpunkt aus“ erfasst. Nach Weber muss die verstehende, d.h. deutende Sozialwissenschaft bei der Erklärung sozialer Erscheinungen zwar die Wertungen der beteiligten Akteure, also Wertungen im Objektbereich, berücksichtigen. Das erfordert aber gerade keine Eigenwertung des Sozialwissenschaftlers.4 Vielmehr schaut dieser aus der insoweit neutralen Beobachter- auf die wertende Teilnehmerperspektive. Sozialwissenschaftliche Deutung des wertenden Handelns anderer und eigene – nichtwissenschaftliche – praktische Wertung sind Weber zufolge scharf zu unterscheiden. Das hat zur Folge, dass die politischen Wertungen, die Weber als politischer Akteur oder politischer Autor getroffen hat, zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten für die Politikwissenschaften durchaus von Interesse sein können; sie sind jedoch kein tauglicher Anknüpfungspunkt, um nach Webers wissenschaftlicher Aktualität für dieses Fach zu fragen.

2. Zu Anters Folgerungen aus dem Weberschen Staatsbegriff

Das tatsächliche Bestehen eines Gewaltmonopols bildet, wie Anter richtig bemerkt, für Weber das spezifische Merkmal der Staatlichkeit. Und es dürfte in der Tat auch eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Demokratie darstellen – jedenfalls solange der Mensch sich nicht zum reinen „homo noumenon“ Kants wandelt, der sich stets durch die vernunftmäßige Einsicht in die Verbindlichkeit des demokratischen Verfahrens und der in diesem Verfahren getroffenen Entscheidungen zu einem pflichtgemäßen Handeln motivieren lässt. Entgegen Anter folgt daraus aber nichts für die Vorzugswürdigkeit des Nationalstaates gegenüber anderen Staatsmodellen. Weder ist eine Staatenbildung nach Maßgabe nationalstaatlicher Homogenität (wie auch immer diese zu konzeptualisieren ist) eine Voraussetzung für die Möglichkeit demokratischen Entscheidens noch für das Bestehen eines Gewaltmonopols. Anters Argument stellt ein non sequitur dar. Für den Sozialwissenschaftler Weber spielt der Begriff der Nation, den er der Wertsphäre zuordnet,5 im Übrigen nur eine ganz untergeordnete Rolle;6 die wenigen Bemerkungen zur Problematik, ihn empirisch klar zu fassen,7 deuten eher auf Distanz und Skepsis hin, zu denen Anters emphatisches Bekenntnis in merkwürdigem Kontrast steht.

Ebenso wenig ergeben sich aus der funktionalen Notwendigkeit eines Gewaltmonopols irgendwelche Konsequenzen für die normative Kompetenzverteilung im Mehrebenensystem der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Solange die sachlichen und personellen Voraussetzungen der Gewaltanwendung einigermaßen klar und widerspruchsfrei geregelt sind und diese Regelungen im Großen und Ganzen befolgt und durchgesetzt werden, ist ein Zustand der Friedlichkeit gewährleistet – wie auch immer die Kompetenzverteilung im Einzelnen ausgestaltet ist. Man mag daher aus anderen Gründen eine Stärkung der einzelstaatlichen Ebene dem Status Quo vorziehen (oder im Gegenteil eine weitere Verlagerung von Kompetenzen auf die EU-Ebene präferieren); die funktionale Notwendigkeit eines Gewaltmonopols vermag es weder in die eine noch in die andere Richtung als Argument zu dienen. Auf Webers Überlegungen zur Staatlichkeit kann Anter sein – ohne jede Begründung bleibendes – Verdikt der „Übergriffe“ der EU in die Belange der Mitgliedsstaaten somit nicht stützen.

3. Zu Anters Bezugnahme auf Webers Unterscheidung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik

Wenig überzeugend fallen auch Anters Ausführungen zu „Merkels Gesinnungsethik“ aus. Zweifelhaft ist schon, ob die Entscheidung der Bundeskanzlerin, in der sog. Flüchtlingskrise die Grenzen nicht zu schließen – von Anter polemisch als „erratische Politik der unkontrollierten Grenzöffnung“ kritisiert – tatsächlich ein Ausdruck reiner Gesinnungsethik war. So hat etwa Philip Manow darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Handeln der Bundesregierung durchaus folgenorientiert als Absicherung des dem Erhalt der Eurozone dienenden Griechenland-Deals deuten lässt.8 Das mag hier indes auf sich beruhen. Entscheidend ist in unserem Kontext, dass Weber keineswegs der einseitige Apologet der Verantwortungsethik war, als den ihn Anter zu zeichnen sucht. Ungeachtet der prinzipiellen Sympathie für die verantwortungsethische Perspektive, die in Webers Schrift „Politik als Beruf“ unzweifelhaft erkennbar ist, hält Weber die Frage, ob der Politiker eine bestimmte Entscheidung besser anhand konsequentialistischer oder anhand deontologischer Erwägungen treffen möge, für eine persönliche Gewissensfrage. „Ob man aber als Gesinnungsethiker oder als Verantwortungsethiker handeln soll, und wann das eine und das andere, darüber kann man niemandem Vorschriften machen. […] Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann.“9

4. Zu Anters Kritik der EU-Bürokratie

Die Aktualität der Weberschen Bürokratisierungsthese am Beispiel der EU zu diskutieren, ist zunächst ein naheliegender Gedanke. Freilich setzt das die Bereitschaft zu einer nüchternen Bestandsaufnahme voraus, die anders als Anter nicht nur einseitig die eine Bürokratisierung fördernden Strukturen des Institutionengefüges in den Blick nimmt, sondern auch die auf Kontrolle abzielenden Gegenmaßnahmen wie etwa die Aufwertung des Europäischen Parlaments, die Einführung des Subsidiaritätsprinzips und die Verabschiedung der Grundrechte-Charta angemessen berücksichtigt. Anter dagegen, so scheint es, blendet sämtliche Entwicklungen aus, die seiner These von der Reformunfähigkeit der EU entgegenstehen. Dass demokratische Kontrolle nur auf der Ebene des Nationalstaates und nicht der EU gewährleistet werden kann, stellt in diesem Zusammenhang eine bloße Behauptung dar, für die Anter keine validen Argumente vorbringt. Die Aneinanderreihung stark wertender Begriffe (u.a. „Regulierungswut der EU“, „vormundschaftlicher Staat“, „Scheinparlament“, „Normierungs- und Vereinheitlichungsmanie“) im Stile einer Parteitagsrede vermag die fehlende argumentative Substanz nicht zu kaschieren. Und auch Anters Hinweis auf seine subjektiven Evidenzerlebnisse dürfte kaum als tragfähige Begründung zählen. Schließlich sieht sich die Vereinnahmung von Weber als EU-Kritiker avant la lettre mit dem Problem konfrontiert, dass dieser als Autor des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert seine Analysen vor dem Hintergrund einer Staatenwelt verfasst hat, die sich von der heutigen Staatenwelt in nicht wenigen Punkten – als Schlagworte seien nur die Europäisierung, die Globalisierung und die Digitalisierung genannt – erheblich unterscheidet.

5. Zu Anters Fazit

Vollends verblüfft Anters Fazit: „Staaten sind verschieden. Es ist gut, dass Staaten verschieden sind. Vielfalt ist gut.“ Hier zeigt sich nochmals in aller Deutlichkeit, dass Anter nicht in der Tradition Webers steht, seine Argumentationsweise vielmehr der Webers ganz entgegengesetzt ist. Während Weber streng Tatsache und Wertung scheidet, verquickt Anter sie fortwährend. Das führt, nimmt man ihn beim Wort, stellenweise zu ausgesprochen befremdlichen Resultaten. So sind etwa demokratische, autokratische und diktatorische Staaten unzweifelhaft verschieden. Anter wird aber – hoffentlich – kaum vertreten wollen, es sei deshalb gut, dass es in der Welt nicht nur Demokratien, sondern auch Autokratien und Diktaturen gibt. Vielfalt – das ist nun meine praktische Wertung – ist eben keineswegs per se wünschenswert.10 Einem methodenstrengen Denker wie Weber wäre es jedenfalls kaum in den Sinn gekommen, einen begründungslosen Sprung vom Sein („Staaten sind verschieden“) zum Sollen („es ist gut, dass Staaten verschieden sind) zu vollziehen.

  1. Siehe den Beitrag von Andreas Anter: Gewaltmonopol, Brexit, Bürokratie: Zur Aktualität Max Webers in der Politikwissenschaft, CAS LMU Blog.
  2. S. insb. Max Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl. Tübingen 1988, S. 489 ff.
  3. Weber (Fn. 2), S. 489.
  4. S. dazu auch H. Albert, Theorie und Praxis – Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität, in: ders., Konstruktion und Kritik, 2. Aufl. Hamburg 1975, S. 41 ff.
  5. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1985, S. 528.
  6. Näher H.-P. Müller, Max Weber, Eine Spurensuche, Berlin 2020, S. 218 ff.
  7. Weber (Fn. 5), S. 527 ff.
  8. P. Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018, S. 55 f.
  9. M. Weber, Politik als Beruf, 11. Aufl. Berlin 2010, S. 64 f.
  10. Soweit Anter nur die schwächere These vertreten will, dass die Existenz einiger Unterschiede gut ist, bleibt er den Maßstab für eine Unterscheidung guter, schlechter und neutraler Verschiedenheiten schuldig. Zudem bedürfte dieser Maßstab selbstverständlich einer normativen Begründung.
Armin Engländer, Kritische Anmerkungen zu Andreas Anters Überlegungen zur Aktualität Max Webers in den Politikwissenschaften, CAS LMU Blog, 24 November 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/32
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