Kunst und Kunstgeschichte im Krisenmodus: Was uns Corona lehrt
Burcu Dogramaci, 03 December 2020
Der weltweite Ausbruch von Covid-19 hat mein Fach Kunstgeschichte und seinen Untersuchungsgegenstand grundlegend verändert. Die Kunst und ihre Institutionen sind seit Dezember 2019 im andauernden Krisenmodus und gehen in eine unbestimmte Zukunft. Die Schließung von Museen und Galerien, die Absage von Kunstmessen in Deutschland, in Europa und weltweit haben sofort zur Frage geführt, wie sich diese Orte des Zugangs zu Kunst auf andere Weise an ihr Publikum wenden können. Auch Künstler*innen ging die analoge Öffentlichkeit abhanden. Und das Fach Kunstgeschichte musste kurzfristig ohne öffentliche Tagungen, Workshops, Vorlesungen und Seminare mit physischer Teilnahme auskommen. Besonders einschneidend sind die pandemisch bedingten Einschränkungen für Forschungs- und Archivreisen, die kaum noch möglich sind. Gerade internationale Forschungsprojekte, wie das ERC-Projekt METROMOD, das ich seit 2017 leite, sind geradezu im Stillstand, und wann notwendige Forschungsreisen nach New York, Mumbai oder Shanghai wieder möglich sein werden, steht in den Sternen.
Zudem ist die COVID-19-Pandemie für meine Disziplin wie ein Lackmustest für ihren Digitalisierungsgrad, und er fiel weitgehend negativ aus. Denn bislang waren weder Forschung noch Lehre tatsächlich digital aufgestellt. Damit meine ich nicht die Open Access-Publikation und nicht die Datenbank, sondern die mündliche Kommunikation und den wissenschaftlichen Austausch, die Interaktion mit Studierenden, den alltäglichen Transfer von Wissen. Deshalb ist es im Rückblick erstaunlich, wie rasch wir lernten, digital zu kommunizieren. Die Online-Lehre war, so lässt sich mit Blick auf das Sommersemester 2020 konstatieren, erfolgreich. Via Zoom, aber auch über Video- und Audio-Aufzeichnungen wurden die verschiedensten Lehrformate wie Seminare, Oberseminare, Vorlesungen und Übungen abgehalten, und das Feedback der Studierenden ist ermutigend. Auch das Institut rückte näher zusammen, regelmäßige Jours fixes zum Erfahrungsaustausch wurden eingerichtet. Die Praxis zeigt indes, dass die Online-Lehre vermutlich eher schwierig ist für Studienbeginner*innen, die in der Stadt neu sind. Für diese ist es frustrierend, die Kommiliton*innen nur digital treffen zu können. Im Oberseminar, mit erfahrenen Studierenden, kurz vor dem Abschluss bot das digitale Format aber ganz neue Optionen, denn Kolleg*innen aus verschiedenen Museen konnten an den Sitzungen teilnehmen, sodass wir Gäste aus Museen in Venedig, Köln oder Baden-Baden zu den Online-Veranstaltungen begrüßen konnten. Besondere Herausforderungen hielt die Krise jedoch insbesondere für die Formate Konferenz, Tagung, Workshop und für Abendvorträge bereit, und diese Erfahrung setzt sich fort.
Mit mehr als einem halben Jahr Abstand zum ersten Lockdown in Deutschland ist es an der Zeit, ein Zwischenresümee zu ziehen und damit auch nach vorn zu blicken: Was lehrt(e) uns Corona? Und wie könnte die Zukunft meines Faches und seiner Gegenstände aussehen? Denn es ist klar, dass die Uhren nicht mehr zurückgedreht werden können. Digitalisierung und neue mediale Formen der Kommunikation, des Wissenstransfers und des Zeigens/Ausstellens werden bleiben. Dieser Text hat dabei nicht den Anspruch, eine umfassende Rückschau auf die Situation nach März 2020 zu leisten, als das Virus die Welt in den (auch kulturellen) Ausnahmezustand zwang. Vielmehr werde ich mich auf beispielhafte Kunst-Projekte und wissenschaftliche Veranstaltungen beziehen, die aus meiner Sicht einen Möglichkeitsraum markieren.
Wie nie zuvor zog sich die Kunst seit Ausbruch der Pandemie in die Räume des Internets zurück. Kunst wurde live ausgestrahlt, aufgeführt als Augmented Reality, digital vermittelt und von einem virtuellen Publikum kommentiert, als künstlerisches Tagebuch veröffentlicht oder über Online-Archive zugänglich gemacht. Meilensteine der künstlerischen Kommunikation in Zeiten des Lockdowns waren die auf Facebook publizierten Corona-Tagebücher der Autorin und Illustratorin Jutta Bauer, beginnend am 21. März 2020. Wie sieht diese Welt im Stillstand aus der Perspektive einer Hamburger Künstlerin aus, und wie finde ich meine eigenen Sorgen und Hoffnungen in den gezeichneten Bilderbögen wieder?
Einen anderen Ansatz, der auf Teilnahme und Teilhabe ausgerichtet war, verfolgte der Do-It-Yourself-Aufruf des J. Paul Getty-Museums via Twitter vom 25. März 2020. Ein Kunstwerk aus der Sammlung sollte unter Verwendung von Alltagsgegenständen aus dem Haushalt (also d e m Aufenthaltsort während des Lockdowns) nachgebildet oder nachgestellt werden. Diese Kampagne fand weltweite Resonanz und mobilisierte die Menschen in Zeiten des Stillstands, ihre Favoriten auszuwählen. Solidarität in Zeiten existenzieller Krisen bietet die Online-Galerie "Artist in a Box", die von sechs Künstler*innen gegründet wurde und Kunst zu moderaten Preisen verkauft sowie in Not geratene Kunstschaffende unterstützt.
Neben diesen außergewöhnlichen Projekten, die in kürzester Zeit auf die Pandemie und ihre wirtschaftlichen und psychologischen Begleiterscheinungen reagierten, versuchten Kunstinstitutionen auf unterschiedliche Weise die Situation zu parieren. Online-Vernissagen zu digitalen Ausstellungen, wie die Eröffnung der Sheela-Gowda-Ausstellung in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus (29.3.2020), waren der Versuch, mühsam und längerfristig Erarbeitetes auch aus einem geschlossenen Museum heraus sichtbar werden zu lassen. Gerade bei der installativen, raumbezogenen Kunst von Sheela Gowda war das selbstverständlich nur ein Kompromiss und machte deutlich, was das Grundproblem blieb: das unmittelbare Erlebnis am und vor dem Objekt ist digital nur eingeschränkt vermittelbar.
Andere Institutionen boten digitale Ausstellungsrundgänge oder auch Live-Events wie etwa Diskussionsrunden. Besonders nachhaltig in Erinnerung bleibt mir ein von den Münchner Kammerspielen veranstaltetes Live-Cam-Gespräch „Schreiben als Schutzzone“ zur Kreativität und Krise unter Beteiligung der Schriftstellerinnen Deborah Feldman und Nora Bossong (14.5.2020). Entwaffnend ehrlich sprachen die beiden über persönliche Ängste und Hoffnungen, über gesellschaftliche Folgen und ihre Strategien im Umgang mit der Pandemie.
In Zeiten sozialer Vereinzelung waren diese und andere Ereignisse ein wichtiger Kitt für das Zusammensein und zugleich Ausdruck der neuen digitalen Möglichkeiten. Auch das digitale Performance-Festival "Art will save us" zeigte mit seinem öffentlichen Auftritt im April 2020, dass Kunst noch lebendig war, bot „joy, hope and inspiration“, wie es auf der Webseite heißt.
Damit wird deutlich, dass Kunst eine wertvolle Ressource für die Gesellschaft ist und eine wichtige Funktion der Krisenbewältigung hat: In Zeiten der Abriegelung sammelten sich Menschen bei Streaming-Performances, tauschten Erfahrungen in Live-Settings aus, knüpften und pflegten digitale Verbindungen und erhielten wichtige Anregungen für den Umgang mit einer neuen Realität. Insgesamt jedoch hatte ich den Eindruck, dass die bildende Kunst es in diesen Zeiten schwerer hat, gerade wenn sie nicht performativ oder filmisch agiert. Denn die Hauskonzerte von Igor Levit am heimischen Flügel, seit März 2020 allabendlich live zu verfolgen über Twitter, brachten eine weltweite Community an den Bildschirmen zusammen, die sich immer wieder herzlich und beim Twitter-Namen begrüßte. Und die Theater, von der Wiener Burg über die Berliner Schaubühne bis zum Hamburger Thalia Theater, hatten die Möglichkeit, ein Publikum an sich zu binden, indem sie legendäre historische und zeitgenössische Inszenierungen aus ihren Archiven streamten oder als Video-On-Demand anboten.
Aber wie reagierte die Kunstwissenschaft auf den Lockdown und das social distancing? Konferenzen wurden zunächst abgesagt und zogen nur zögerlich in den folgenden Wochen und Monaten in den digitalen Raum um. Erst mit den Erfahrungen der Online-Lehre wurden, so mein Eindruck, auch die Institutionen mutiger. In den vergangenen Wochen konnte ich an einigen digitalen wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen, die – aus meiner Sicht – die Herausforderungen der krisenbedingten Einschränkungen unterschiedlich meisterten und bisweilen auch ganz neue Chancen in der Krise für sich entdeckten. Die Londoner Online-Tagung „Another Eye“ zu Fotografinnen im britischen Exil (11.-13. September 2020) hatte bis zu 120 Teilnehmende täglich, die sich weltweit zuschalteten. Fragen konnten via Chat oder durch direkte Ansprache gestellt werden. Die tatsächlich globale Vernetzung der Teilnehmenden wären in analoger Form sicher so nicht möglich gewesen.
Auch ein einstündiges Webinar der Utrecht University zu „Migrant lives in pandemic times“, das an einem Freitagnachmittag (18. September 2020) stattfand und mehr als 60 Teilnehmende hatte, war ein eindrucksvolles Lehrstück zu den Möglichkeiten einer digitalen Veranstaltung, die dem Ideal eines weltweit vernetzten Denkens, Arbeitens und Austauschs sehr nahe kam. Denn über Zoom, bei dem alle im selben „Bilderrahmen“ erscheinen, lässt sich ohne ein mühsames Kennenlernen rasch auf Augenhöhe diskutieren. Das waren schöne Erfahrungen, die sich auch in der Nachmittagsveranstaltung „Refuge in the Heights: Migration, Memory, and Authoritarianism in the 20th Century“ (28. Mai 2020) des Leo Baeck Institute in New York City bestätigten. Bei dieser digital gestreamten Podiumsdiskussion waren unter den Zuhörenden auch Zeitzeug*innen, die selbst oder deren Eltern in die USA eingewandert waren. Es war bewegend, ihnen von Deutschland aus unmittelbar und unkompliziert digital zu begegnen – und dies in einer Zeit, als in New York das Corona-Virus wütete und die New York Times mit einer Seite viral ging, die der damals 100.000 (27. Mai 2020) an Covid-19 verstorbenen US-Amerikaner gedachte.
Wie es mit Konferenzen und Workshops weitergehen wird, ist unsicher. Aber mit den bisher gesammelten Erfahrungen im Digitalen erscheint es durchaus möglich, dass gerade große internationale Konferenzen zukünftig ins Online-Format gehen. Was fehlt, sind die Gespräche beim Kaffee oder Abendessen, der Austausch neben den Vorträgen, die physische Interaktion, also alle Formen der analogen Vergesellschaftung. Da hilft es auch nicht, sich vor dem Bildschirm zuzuprosten. Aber vielleicht kann der Breakout-Room dazu beitragen, in kleinen Gruppen ins Gespräch zu kommen. Auch die Vortragslängen müssen meines Erachtens an das digitale Format angepasst werden.
Es wird also auch abzuwarten sein, wie die institutionalisierte Kunst zukünftig mit diesem Einschnitt umgeht. Business as usual ist eigentlich undenkbar, denn für das Fach Kunstgeschichte muss es tatsächlich darum gehen, Wissen weltweit sichtbar werden zu lassen und sich mit einer globalen Community zu vernetzen. Das kann nicht allein über Datenbanken geschehen, und Museen müssen sich vergewissern, wie sich die Institution im 21. Jahrhundert positionieren kann, wie Ausstellungen auch anders und global zugänglich sein können und eine Zusammenarbeit mit anderen Häusern besser gelingen kann. Vielleicht wird in Zukunft auch das virtuelle Museum als eigener Raum verstanden werden, der neben dem analogen Museum eine Existenzberechtigung mit anderen Instrumenten haben wird. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die eine Institution die andere ersetzen kann. Wir brauchen das analog erfahrbare Objekt mehr denn je zuvor, um in der ästhetischen und sinnlichen Erfahrung besser zu verstehen, dass wir sind (existieren), wer wir waren und sein werden.