In der Pandemie. Erfahrungen eines Arztes, akademischen Lehrers und Wissenschaftlers
Alexander Gerbes, 03 December 2020
Die Pandemie betrifft uns alle massiv im persönlichen und beruflichen Umfeld. Während die zweite Welle hier in Deutschland an Fahrt aufnimmt, möchte ich gerne einige Gedanken zur Bedeutung der Krise und den möglichen Konsequenzen teilen. Dies betrifft meine Erfahrungen als Wissenschaftler, akademischer Lehrer und auch als Arzt

© für alle Bilder (außer das vorletzte): LMU Klinikum.
Wie in den meisten Disziplinen sind auch in der Medizin nationale und internationale Kongresse abgesagt, verschoben oder in ein virtuelles Format überführt worden. Dies hat auch überraschend positive Effekte mit sich gebracht. Zeitraubende und kostspielige Anreisen entfallen. Mit Zoom, GoToMeeting etc. kann, nachdem man sich mit der Technik vertraut gemacht hat, rasch auf wesentliche Inhalte fokussiert werden. Es sind sogar lebhafte Diskussionen möglich. Die so gewonnene Zeit kann für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit, Analyse von Daten, Projektplanung und Besprechungen mit Mitarbeiter/innen verwendet werden. Diese intensivierte Tätigkeit scheint die wissenschaftliche Produktivität zu erhöhen. Als stellvertretender Herausgeber von GUT, einem führenden Journal im Bereich Gastroenterologie und Hepatologie, habe ich eine deutliche Zunahme von Manuskripten in den letzten Monaten beobachten können. Und dies ist nicht nur auf Arbeiten zum Thema Covid-19 zurückzuführen, sondern betrifft alle Bereiche.
Was wir zugleich schmerzlich vermissen, sind die persönlichen Interaktionen mit Kolleginnen und Kollegen, die Möglichkeit auf Tagungen neue Kontakte zu knüpfen, vertieft und konstruktiv im kleinen Kreis zu diskutieren und nicht zuletzt den abendlichen Austausch mit anderen in der wissenschaftlichen Community. Der Verlust dieser Möglichkeiten macht uns besonders bewusst, wie wertvoll solche persönlichen Begegnungen sein können.

In besonderer Weise betrifft dies auch unsere Studierenden. Die Herausforderungen und anfängliche Ungewissheit in den Anfangssemestern nehmen trotz aller Bemühungen zu. Ratschläge von Kommilitonen wie von Lehrenden und der Aufbau eines eigenen Netzwerkes sind erschwert. In fortgeschrittenen Semestern mussten Praktika entfallen. Der gerade für den zukünftigen Arzt so wichtige Kontakt direkt mit dem Patienten und die Untersuchungstechniken kommen zu kurz. Die Umstellung der Staatsexamensprüfung am Patienten auf die Diskussion eines virtuellen Falles ist schwierig, für Prüfer wie Geprüfte zugleich. Positive Aspekte können für fortgeschrittene Semester praktische Erfahrungen auf freiwilliger Basis sein: Beispiele sind Pflegetätigkeit, insbesondere auf Covid-Stationen, Tätigkeit in Teststationen für Abstriche oder Unterstützung der Gesundheitsämter. In jedem Fall ist die Pandemie für die Studierenden eine Herausforderung, aber auch Chance auf mehr Eigeninitiative und Verantwortung.

Die Pandemie hat auch bei vielen Patienten zu Ängsten und Verunsicherungen geführt. Sind die Beschwerden so stark, dass der Gang zum Arzt oder zur Ärztin nicht aufgeschoben werden sollte? Kann ich mich bei dem nötigen Krankenhausaufenthalt mit Covid-19 anstecken? Wie lange soll die jetzt fällige Kontrolluntersuchung aufgeschoben werden? Manche Fragen können in einem Telefonat mit dem Patienten oder behandelnden Kollegen geklärt werden. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen oder schwierigen medizinischen Entscheidungen ist aber der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient unverzichtbar. Dank enormer Anstrengungen im ambulanten und stationären Bereich scheint es erfreulicherweise gelungen zu sein, trotz der außerordentlichen Herausforderung, eine gute Patientenversorgung aufrechtzuerhalten. Die anfangs befürchtete Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen blieb uns allen erspart. Die Qualität unseres Gesundheitssystems und die Notwendigkeit der Aufrüstung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sind in der Pandemie vielen klarer geworden.

Bedeutet die Pandemie einen Umkehrpunkt? Meines Erachtens sind wichtige Aspekte für Gesellschaft und Wissenschaft aber auch für jeden Einzelnen klarer geworden: die Notwendigkeit von allgemein gültigen Regeln, die Bedeutung von gegenseitiger Rücksichtnahme und Fürsorge, Fokus auf das Wesentliche, Flexibilität und Verzicht auf manche Bequemlichkeit und die essentielle Bedeutung persönlicher Kontakte. Also kein Umkehrpunkt, sondern eine Neuorientierung. Eine Rückkehr zum Status quo ante wird es wohl nicht geben – und das ist vielleicht gut so.