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Beuys ohne Beuys. Eine Neubefragung seiner Werke in Arbeits- und Lebensräumen außerhalb des Museums

Tatjana Schaefer, 08 October 2021

Wie bestreitet man das 100. Jubiläum eines Künstlers, der schon zu Lebzeiten als Jahrhundertkünstler bezeichnet wurde – auch als Scharlatan, Ausnahmetalent, Schamane oder Lehrer der Nation. Die vielen Titel des Joseph Beuys kennzeichnen seinen Werdegang weit über seine Lebenszeit hinaus und lassen das Interesse an seiner von Ambivalenzen geprägten Persönlichkeit nicht abebben. Wird Beuys ausgestellt, dann häufig unter einem Schlaglicht, das eine seiner vielen Facetten in den Fokus rückt. Dabei bleibt es oft auf seine Persönlichkeit zentriert, was den Mythos immer wieder aufs Neue entfacht. Was hat das für Auswirkungen auf den Umgang mit seiner Kunst? Im klassischen White Cube Museum wirken die Kunstwerke von Beuys wie Relikte seiner Aktionen und Performances. Sie stehen vor weißgetünchten Wänden in Vitrinen isoliert. Man betrachtet die Objekte folglich mehr mit dem Wissen um den Kultcharakter des Künstlers als mit unvoreingenommen Augen. Das gilt auch für Werke anderer Künstler mit ikonischem Status. Doch gerade bei Beuys ist es besonders kritisch zu sehen, wenn man bedenkt, dass er eine eigene Werkgruppe dazu schuf, Menschen im Alltag abzuholen und für Kunst als Impulsgeber zum Denken und Handeln zu sensibilisieren.

Diese Werkgruppe – die sogenannten Multiples, sind Auflagenobjekte aus Alltagsmaterialien. Relativ niedrig bepreist, sollte ein/e Jede/r die Möglichkeit haben, ein Objekt von Beuys zu erwerben und damit zu leben. Das heißt, sich nicht in Betrachtung darin zu versenken, sondern anhand der Materialsprache und spezifischen Verknüpfung an die eigene Selbstbestimmung, Freiheit und Verantwortung erinnert zu werden. Viele Multiples haben durch Schenkungen und Stiftungen den Weg zurück ins Museum gefunden, wo sie wiederum in biografischem Bezug zu Beuys gesehen werden und somit nicht mehr im Alltagsmilieu, für das sie vorgesehen waren. Allein die Pinakothek verfügt über fast 300 Multiples von Joseph Beuys. Aus dieser Diskrepanz heraus haben wir einen experimentellen Ansatz in der Auseinandersetzung mit Joseph Beuys anlässlich seines 100. Jubiläums entwickelt:

Anstelle einer Retrospektive in zelebrierender Manier, die die Fortschreibung und Verstärkung des Personenkultes bedingt, widmet sich das Ausstellungskonzept von „Ich strahle aus. 100 Jahre Joseph Beuys“ einer Revision: Beuys Multiples werden außerhalb des Museums an Orten verschiedener Arbeits- und Lebensbereiche aufgestellt.1 Dort wird die Frage nach der „Impulsfunktion“ der Multiples vor dem Hintergrund heutiger Fragestellungen neu aufgeworfen. Wir begreifen damit die 100 Jahre als einen Einschnitt im gesellschaftlichen Wandel. Es geht hier nicht um den persönlichen Geburtstag, der sowieso von Beuys Abwesenheit gekennzeichnet ist, sondern darum, dass heute eine Generation auf Beuys blickt, die nicht seinem Zeitgeist entsprungen ist. In anderen Worten: wir sind heute die Gegenwart, von der Beuys als Zukunft sprach. In der Verteilung von Objekten auf Orte, die für Begegnungen und Austausch einer globalisierten und gleichzeitig lokal wirkenden Gesellschaft stehen, wird auch die Begegnung mit Kunst ein interaktiveres, vom Dialog getragenes Unterfangen. Es ist auch eine konzeptuelle Weiterführung der ursprünglichen Intention, dass Multiples in private Wohnräumlichkeiten integriert werden. Denn die sieben Orte, zu denen auch das Center for Advanced Studies (CAS) gehört, sind öffentlich zugänglich. Sie sind alltäglich für diejenigen, die dort arbeiten und zusammenkommen, und sie sind gleichzeitig ungewohnt für die Menschen, die sie zwecks der Kunst aufsuchen. Allein dadurch entsteht eine Vermengung von Kunstpublikum und sich zufällig vor Ort Befindenden. Dazwischen stehen die Kooperationspartner:innen, die die Kunst entgegengenommen haben und für den Ausstellungszeitraum behüten, teils sogar pflegen – denn zwei Multiples bedürfen eines regulären Austausches von Zitrone und Rose.2 Sie sind gleichzeitig auch Gesprächspartner:innen, die weniger für eine kunsthistorische Vermittlung als für einen offenen Dialog zum Kontext des Multiples stehen.

Bricht man auf diese Weise mit einer kohärenten kuratorischen Narrative, die die Objekte in Bezug zueinander und zu Beuys’ Gesamtwerk setzt, ist man zwangsläufig mit einer fragmentierten Sicht auf das künstlerische Werk von Beuys konfrontiert. An dieser Stelle kommt die atmosphärische Wirkung der einzelnen Orte ins Spiel. Da die Kunstwerke in nicht-musealen Räumen einzeln platziert sind, und somit die Referenzbildung zu anderer Kunst wegfällt, wird das räumliche Interieur, auch die Funktionalität der Räume, zum Auffangnetz und Gegenspieler. Fragen der Wechselbeziehung zwischen dem Kunstwerk und ihrer neuen Umgebung rücken in den Vordergrund: wirkt die Kunst als Fremdkörper, oder camouflierender Bestandteil einer Einrichtung? Als Kuratoren der Ausstellung haben wir Akzente in beide Richtungen gesetzt, da aus dem Spannungsverhältnis einer ambivalenten Zuordnung neue Bedeutungen erwachsen.

Das lässt sich beispielhaft an den beiden im Center for Advanced Studies platzierten Werken aufzeigen: Das Soundstück Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee, welches Beuys mit seinen engen Kollaborateuren Henning Christiansen und Johannes Stüttgen aufnahm und 1970 als ein Schallplatten-Multiple herausbrachte, ist ein abwechselnder Singsang aus Bejahungen und Verneinungen im rheinländischen Dialekt.

Joseph Beuys, Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee, 1970 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2021, Fotocredit: Franziska Pietsch, Bayerische Staatsgemäldesammlungen.

Im ersten Moment komödiantisch anmutend, entfaltet der Sound nach einer Weile des Zuhörens einen Mantra-ähnlichen, rhythmischen Duktus. Das in Dauerschleife präsentierte Hörstück umhüllt die Zuhörenden in einem unauflöslichen Rauschen einander opponierender Stimmen. Im CAS ist das Stück im Konferenzsaal installiert, dem mit Augenzwinkern als Oval Office bezeichneten Raum für Austausch und Gespräche. An einem großen länglichen Tisch stehen sich leere Stühle gegenüber, die nahezu einladend auf Besuchende der Soundarbeit wirken. Das Beuys-Werk mit dem offiziellen Untertitel „Omagespräch“ legt den banalen Bezug zu einem von Beuys bei einer Beerdigung überhörten Gespräch älterer Damen offen. Im Konferenzsaal des CAS tritt hingegen die politische Deutbarkeit des Werks in den Vordergrund. Verhärtete Meinungspole, die unvereinbar und kompromisslos scheinen, bilden ein akutes Problem im gesellschaftlichen Klima. Wie kann zwischen den Polen ein Gesprächsfluss wiederhergestellt werden? Nicht zuletzt inspirierte jenes Multiple Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee zu einem Austausch in dieser Fragestellung, welchen das CAS mit Podiumsgästen unterschiedlicher Fachrichtungen im Rahmen der Ausstellung „Ich strahle aus. 100 Jahre Joseph Beuys“ organisierte.3

Auch das zweite im verglasten Erker des CAS platzierte und damit auch von außen einsehbare Multiple von Joseph Beuys Ölkanne F.I.U. (1980) erhält eine erweiterte Bedeutungsebene im Kontext des CAS. Beuys spielte mit der auf der Kanne versehenen Aufschrift F.I.U., die ursprünglich für Federazione Italiana Ulivocultivori (italienisch für: Föderation der Olivenbauern) steht, auf das Akronym seiner Free International University an – diese sollte interdisziplinäre Forschung, Lehre und Austausch anstoßen und organisierte seit 1973 an verschiedenen Standorten Workshops.

Joseph Beuys, Ölkanne F.I.U., 1980 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2021, Fotocredit: Franziska Pietsch, Bayerische Staatsgemäldesammlungen.

Der Kunsthistoriker und Beuys-Biograf Philip Ursprung zeigt eine Parallele auf zwischen Beuys’ Free International University und dem Aufkommen der ersten Centers for Advanced Studies: Beuys ging es schon als Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf darum, die Lehre über einzelne Fachdisziplinen auszuweiten. In diesem ganzheitlichen, auf Wissenstransfer beruhenden Ansatz für kreatives und vernetztes Denken sah er die einzige Möglichkeit der gesellschaftlichen Umgestaltung. Und diese Ambition wurde laut Ursprung ungefähr zeitgleich durch die Gründung erster interdisziplinärer Studienorte, den CAS, in Europa und USA verfolgt.4 Die Ölkanne F.I.U. im CAS setzt ein Zeichen dafür, dass Beuys’ Gedankengut bis heute von Einrichtungen weitergetragen wird, die weder damals noch jetzt eine direkte Verbindung zu seinen künstlerischen Aktionen hatten, aber die gleichen Vorstellungen gesellschaftlicher Weiterentwicklung teilen.

Das sind die Brücken, die das Projekt anstrebt; eine Verlagerung der Perspektive vom Beuys’schen Mikrokosmos zur Verknüpfung der von Beuys formulierten Ideen mit Initiativen, die im Heute weiterwirken. Es geht darum, zu ergründen, wo jene provokativen, innovativen und unkonventionellen Bestrebungen von Beuys auf Organisationen stoßen, die einen lebendigen Beweis für gesellschaftliche Transformationsprozesse darstellen. Letztlich geht es aber auch darum, aufzuzeigen, wo die Grenzen der Kunst und Aktionen von Beuys lagen, die heute durch andere Wege überbrückt werden. Beuys selbst formulierte 1974 seine Sicht darauf, wie sich die Multiples in einer Welt nach ihm behaupten würden: „dass man sich später wieder, wenn andere Dinge in die Diskussion dazukommen, zurückerinnert an einzelne Objekte, dass sich die Dinge später sozusagen überlagern, dass sie an einem wieder vorbeiziehen in einer anderen Konstellation.“5 Das Zitat zeigt, dass Joseph Beuys neue Bedeutungsebenen und Interpretationsrichtungen kommen sah, und das für ihn diese das Werk nicht verwässerten, sondern im Gegenteil produktive Verbindungen aus ursprünglichen und neuen Kontexten ermöglichen. Vor diese Herausforderung stellen wir das Publikum, indem wir uns selbst auf ungewohntes Terrain begeben und kuratorische Praxis als Fragezeichen formulieren: Beuys ohne Beuys – was sagt uns seine Kunst im Heute?

  1. Einen Überblick über alle Standorte und Öffnungszeiten bietet die Beuys City Map auf der eigens für die Multiples konzipierten Website: pinakothek-beuys-multiples.de/beuys-city-map.
  2. Es handelt sich hierbei um die Multiples Rose für direkte Demokratie, 1973, die im Justizpalast ausgestellt ist und wöchentlich ausgetauscht werden muss, und die Capri-Batterie, 1985, die eine echte Zitrone beinhaltet und von den Kooperationspartner:innen im gate – Garchinger Technologie- und Forschungszentrum regulär ersetzt wird.
  3. Das Podium „Kunst am CAS − Joseph Beuys – Multiples Dissonanzen der Demokratie. Verlernen wir zu debattieren?“ ist auf der Website des CAS als Video verfügbar. Es diskutierten Margarete Bause, Stephan Lessenich, Tatjana Schäfer und Bernhart Schwenk.
  4. Ursprung, Philip: Joseph Beuys. Kunst Kapital Revolution, München 2021. S. 173.
  5. Beuys zit. in: Schellmann, Jörg (Hg.): Joseph Beuys: Die Multiples. Werkverzeichnis der Auflagenobjekte und Druckgraphik, München/New York 1992.
Tatjana Schaefer, Beuys ohne Beuys. Eine Neubefragung seiner Werke in Arbeits- und Lebensräumen außerhalb des Museums, CAS LMU Blog, 08 October 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/30
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