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Shining

Stephan Huber, Roland Wenzlhuemer, 01 July 2022

Roland Wenzlhuemer (RW): Ich freue mich sehr über die Gelegenheit, mich dieser hochspannenden Ausstellung thematisch zu nähern, und dies auch gleich im Austausch mit dem Künstler tun zu dürfen. Schon bei der ersten Betrachtung haben sich mir mehrere Fragen unmittelbar aufgedrängt. Erstens der biographische Aspekt: Es gab einmal die Idee zu einem Forschungsprojekt, das sich um das Thema der Habitabilität, der Bewohnbarkeit eines Landstrichs, einer Gegend drehte. Die Idee war, dass Habitabilität nicht nur mit registrierbaren Faktoren wie Klima und Wetter zu tun hat, sondern sehr viel mit unseren Zuschreibungen. Schon das erste Bild im Katalog der Ausstellung spielt ja mit beidem: Das Elternhaus, das für eine geborgene Kindheit steht, wird verpflanzt in eine auf den ersten Blick unwirtliche, vereiste, eben inhabitable Gegend.

Stephan Huber (SH): Ja, das stimmt absolut. Einerseits gibt es eine bestimmte reale Zuordnung. Das Allgäu, der Ort also, wo ich aufgewachsen bin, war immer voller Schnee. Das entscheidende Kindheitsmoment war immer dieses Weiche, Stumme, wenn der Schnee sich wie eine Decke über die gesamte Landschaft legt und alles, positiv gesagt, zart macht, negativ gewendet aber auch alles abtöten kann. Das steht also für die reale Seite, die andere Seite ist eine Metapher für die Nachkriegszeit. Diese extreme Kälte, die Verdrängung, die traumatisierten Kriegsväter. Es geht also um Geschichte, um einen historischen Prozess, der meine Biographie überlagert. Ein ungewöhnlicher Vorgang für das Allgäu; die Welt hatte für einen Allgäuer ihre Grenzen damals in Ravensburg oder hinterm Bregenzer Wald. Es gab nur Lokal- oder Regionalgeschichte; die Welt öffnete sich erst später.

Shining, Fotografie, 2001, 78 cm x 46 cm.

RW: Es ist eine spannende Frage, ob es das Globale wirklich nicht gab, oder ob man es nicht wahrnahm, weil man einen anderen Referenzrahmen hatte. Weite Teile der globalhistorischen Forschung würden argumentieren, dass seit dem späten 19. Jahrhundert zumindest in Europa, Nordamerika und Asien kaum ein Flecken existierte, der nicht von einer globalen Dynamik erfasst war.

SH: Die Wahrnehmung von Kindern ist wahrscheinlich eine andere. Die einzige Form einer Globalgeschichte, die ich kannte, war eine medial vermittelte, über die Bücher von Karl May. Unser Alltag war noch völlig unberührt von der globalen Dimension historischer Verflechtungen. Die Welt trat erst 1967, als ich 15 Jahre alt war, in unser Wohnzimmer, pünktlich um 20 Uhr abends in Gestalt des Tagesschausprechers.

RW: Mit dem Stichwort Karl May verweisen sie auf die fiktionalisierte Wahrnehmung der Welt, die als Projektionsfläche wahrscheinlich präsenter war als die faktische.

SH: Ja, die Welt war eine Projektionsfläche, und das blieb sie auch für mich als Künstler, da meine Landkarten ja auch in einer bestimmten Art und Weise immer Projektionsflächen geblieben sind. Die Welt stellte sich mir vor allem in Form von Literatur und insbesondere von großen Bildbänden über die Wüsten und Gebirge der Welt dar. Tatsächlich rückte das globale Zeitgeschehen erst sehr viel später in mein Bewusstsein. Ich erinnere mich vor allem an die großen Demonstrationen im Sommer 1967, an die Notstandsgesetze von 1968 und an 1968 überhaupt als absoluten Schlag in die bürgerliche Sicherheit, dessen Nachhall bis in die Familien reichte. Damit war Globalgeschichte dann wirklich in den deutschen Wohnzimmern angekommen.

RW: Damit sprechen Sie einen Punkt an, auf den ich auch zu sprechen kommen wollte. Sie haben gesagt, dass es einen Moment gab, in dem sich Ihre Biographie mit einer allgemeinen historischen Entwicklung gewissermaßen überschnitten hat. Methodisch gesehen würde ich als Historiker an dieser Stelle sofort einhaken und den Begriff des aggregierten Tuns ins Spiel bringen, d.h. für mich sind die einzelnen Akteur/innen ganz zentral für das gesamte Weltgeschehen. Das heißt, dass Sie und Ihre Erfahrungen ein integraler Bestandteil einer größeren Entwicklungslinie sind. Empfinden Sie das anders?

SH: Einerseits ist meine Arbeit extrem biographisch, andererseits möchte ich, dass meine Arbeit in einem größeren Kontext nachvollziehbar bleibt, deshalb benenne und zeige ich geschichtliche Ereignisse, ob es jetzt der russische Einmarsch in Prag ist oder der Tod von Ulrike Meinhof. Nach meinem Dafürhalten erzähle ich meine biographische Geschichte als Gefühlsstruktur, die von anderen Leuten vor dem Hintergrund des eigenen Erfahrungshorizonts partiell mitgelesen werden kann.

RW: Der spannende Punkt für uns Historiker/innen ist besonders dann erreicht, wenn verschiedene Biographien, Erfahrungs- und Akteurswelten miteinander in Kontakt treten. Wie verhält sich diese Überblendung, dieses Interagieren dann zu dem, was wir in einer massiven Simplifikation „Geschichte“ nennen? Also so etwas wie aggregierte, allgemeine, größere, breitere Geschichte. Diese Frage haben tausende Jahre Geschichtsschreibung immer noch nicht gänzlich erhellen können.

SH: Vielleicht kann die Kunst- und Kulturgeschichte hier Antworten geben. Es ist doch hochinteressant, warum in bestimmten Momenten bestimmte Künstlergruppen plötzlich reüssieren konnten. Nehmen wir die modernistischen Futuristen im agrarischen Italien, die ja sehr stark mit dem Faschismus konnotiert werden und in einer Zeit auftraten, in der Italien extrem durch die Herausforderungen der modernen Gesellschaft geprägt war. Warum gab es, um ein weiteres Beispiel zu nennen, an Akademien plötzlich ein ausgeprägtes Interesse an körperbetonten, in der Produktion billigen Performances? Es war auch eine Reaktion auf einen geldaffinen Kunstmarkt, ursprünglich vorangetrieben von einzelnen Personen. Es ist eine ziemlich spannende Frage, wie eine Bewegung entsteht.

RW: Und es ist auch keine ganz kleine, wie man an den vielen Versuchen zu ihrer Beantwortung sehen kann. Der italienische Historiker Carlo Ginzburg hatte als einer der Spezialisten der klassischen italienischen Mikrohistorie sehr viel dazu zu sagen, wie sich kleine Biographien zu einem größeren Ganzen verhalten oder wie viel man daraus herauslesen kann.

SH: Das ist ein Aspekt, der mich sehr interessiert und sich auch deutlich in meinen Arbeiten widerspiegelt. Die Frage nämlich, wie sich aus individuellen Beobachtungen etwas Größeres herauslesen lässt. In meinen Werken versuche ich herauszuarbeiten, wie aus einer Vielzahl kleinerer Ereignisse, biographischer Skizzen und Momentaufnahmen eine Linie entsteht.

RW: Das ist im Kern die zentrale Aufgabe der Mikrogeschichte, die ganz oft missverstanden worden ist. Es geht um die Betrachtung kleiner und kleinster sozialer Zusammenhänge, um ein Dorf, eine Familie, einen Menschen mit seiner Biographie. Häufig ist das so verstanden worden, als könne man aus diesen Beobachtungen etwas extrapolieren, etwas ableiten oder in allgemeingültige Aussagen überführen. Das ist eigentlich ein Missverständnis. Mikrogeschichte hat vielmehr ganz ins Detail des Erlebens, der Handlungshorizonte, der Möglichkeiten von einzelnen Menschen blicken und sehen wollen, wie sich darin größere Entwicklungen spiegeln. Die Ereignisse dienen nicht als Beispiel, sondern wir benutzen sie als eine Art Linse oder Prisma.

SH: Was passiert mit den einzelnen Mikrogeschichten? Werden sie zur Makrogeschichte, gar zur Globalgeschichte?

RW: Eigentlich nicht. Das wäre sozusagen der ältere Ansatz gewesen. Man würde das Ergebnis wahrscheinlich Weltgeschichte nennen oder Universalgeschichte. Die Globalgeschichte leidet ein bisschen unter ihrem Namen, weil der insinuiert, dass man so etwas vorhat. Eigentlich geht es der Globalgeschichte um die Untersuchung von Verbindungen.

SH: Um die Untersuchung von Verbindungen geht es mir auch in meinen Karten. Allerdings erlaubt mir die künstlerische Freiheit extrem subjektiv zu argumentieren, was ein Historiker wahrscheinlich nicht darf. Lässt Globalgeschichte eigentlich die eurozentrische Perspektive immer hinter sich? Ich kann mich nie aus meiner eurozentrischen Herkunft lösen, mein Zentrum ist immer das Allgäu; ich trage die Aufklärung, meine Bildung, meinen kulturellen Kontext stets mit mir. Meine Vorlieben und meine Verfallenheit stammen immer aus meinem Kulturkreis.

RW: Dann geht es Ihnen nicht anders als meinen Kolleg/innen und mir. Unsere Wissenschaft findet an einer mitteleuropäischen Universität mit ihren Disziplinen, Strukturen, mit ihren spezifischen Zugängen statt. Sie steckt in einem eurozentristisch geformten Korsett, aus dem sie nur bedingt ausbrechen kann. Das wirklich hinter sich zu lassen ist nicht nur schwierig, sondern grenzt fast ans Unmögliche. Wenn man solche Fixierungen hinter sich lassen und sie nicht einfach durch andere ersetzen will, sind Kollaborationen über weite Strecken und kulturelle Kontexte hinweg erforderlich. Das kann helfen und was ebenfalls helfen kann, ist das, was Sie gerade getan haben; nämlich sich der eigenen Zentriertheit bewusst zu werden. Der schlimmste Eurozentrismus ist ja der, der sich als solcher nicht erkennt.

SH: Für mich stellt sich aber weniger die Frage, ob ich die eurozentristische Perspektive überwinden kann, als vielmehr, ob ich sie überhaupt überwinden will. Gesetzt den Fall ich wäre zu diesem Perspektivenwechsel in der Lage, müsste das konsequenterweise nicht heißen, dass ich meine ganze individualistische Struktur und Biographie dafür aufgeben müsste? Aber dazu interessiere ich mich zu sehr für meine eigene Biographie, bin zu sehr verstrickt in meine eigene Geschichte und variiere sie intellektuell und künstlerisch fast bis zum Manierismus.

RW: Das ist wahrscheinlich einer der Punkte, in dem sich unsere Arbeit unterscheidet. Die Überwindung des Eurozentrismus würde ja aus Ihrem künstlerischen Zugang heraus überhaupt keinen Sinn ergeben. Bei mir dagegen ist es so, dass ich mir zwar meiner Gebundenheit bewusst bin, aber gleichzeitig versuche, wissenschaftliche Aussagen von allgemeiner Gültigkeit zu treffen, die nicht nur subjektiv sein sollen. Dabei muss, das ist meine tiefe Überzeugung, das Bemühen vorhanden sein, die eigene Standortgebundenheit zu reflektieren; sie zur Gänze hinter sich zu lassen kann nicht gelingen. Man kann sie nur abmildern, mit anderen Positionen in Bezug bringen und somit das Dilemma ein bisschen entschärfen. Als Historiker kann ich die Reichweite meiner Aussage offenlegen, aber die Kunst muss sich nicht auf diese Art selber beschränken. Sie haben im Prinzip ja eine unendliche Reichweite in der Aussage.

SH: Das kann ich nicht beurteilen, da es eine Rezeptionsfrage ist. Allerdings stimme ich zu, dass ich methodisch unendliche Möglichkeiten habe, ganz gleich, ob ich sie nutze oder nicht. Ich bin als Künstler niemandem verpflichtet und von mir wird keine Objektivität erwartet. Mein Werk ist durchzogen von semi-fiktionalen Biographien, Halbwahrheiten, Geschichten, Fake-Storytelling, also von allem, was für den Objektivitätsanspruch eines Historikers tödlich wäre. Dies ist die von mir geschaffene Realität und in diesem Punkt unterscheiden wir uns natürlich signifikant. Das ist die Freiheit der Kultur, die zugleich auch das Manko der Kultur ist. Spätestens seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts sind semi-fiktionale Biographien ganz entscheidend geworden für Kulturschaffende. Wahrscheinlich ist Bob Dylan nie mit einem Greyhoundbus nach New York gekommen, sondern in der 1. Klasse Pan Am, aber das nur am Rande bemerkt. Biographien sind und wurden immer geschönt. Aber an diesem Punkt unterscheiden sich Historiker und Künstler wahrscheinlich am stärksten, denn die Historiker sind, was ihren Anspruch angeht, der Realität oder sogar der Wahrheit verpflichtet. Würden Sie dem beipflichten?

RW: Das ist eine schwierige Frage, auf die Sie, je nachdem, wen Sie fragen, sehr unterschiedliche Antworten erhalten würden. Bis vor etwa 30 Jahren hätten die meisten Historiker/innen die Frage bejaht; seither hat sich das Spektrum differenziert. Heute würde man anfangen, darüber nachzudenken, was Realität eigentlich ist. Das Erbe der sogenannten kulturhistorischen Wende besteht nun darin, dass das, was wir als Realität wahrnehmen, im Prinzip als ein Geflecht von Bedeutungszuschreibungen interpretiert wird. Zugespitzt könnte man diese neue Anforderung an die Historikerin so beschreiben: Sie können daran verzweifeln, angesichts dieser scheinbaren Unmöglichkeit, noch Geschichte zu schreiben, oder Sie können diese kulturhistorische Herausforderung, für manche Kollegen vielleicht auch kulturhistorische Zumutung, auf innovative Weise annehmen.

SH: Eine solche innovative Art wäre eine subjektive Erzählung, wie sie auch meinen Arbeiten zugrunde liegt. Darin unterscheide ich mich von den Künstlern, die eine „Message“ haben. Bei mir steht die Lust am Fabulieren im Vordergrund, die Lust am Erzählen und diese Lust ist vielleicht meine Message, weil sie natürlich etwas mit Methode zu tun hat. Der Moment des Schaffens generiert die Methode, die lustvoll sein oder auch Spaß machen kann. Das ist sicher etwas, das im engeren Methodenkanon der Wissenschaften unterschätzt wird: alles, was mit Spaß zu tun hat! Deswegen schätze ich Wissenschaftler/innen, die vielleicht eher am Rande oder sogar im Ruf stehen, unseriös zu sein. Mit Ludwig Fleck oder Paul Feyerabend ist es eher das anarchische Denken, das wichtige Stichwörter für meine Arbeit geliefert hat.

RW: Die Denkfigur, über die ich in den letzten Jahren am meisten nachgedacht habe, ist die der „Verbindung“. Was heißt eigentlich Verbindung, wie kann ich sie darstellen, wie kann ich sie denken, wie überlagern sich Verbindungen und auf welche Weise gestalten sie unsere Lebenswelt? Bei Ihren Karten musste ich daran denken, wie sehr Karten generell eine bestimmte Wahrnehmung unserer Umwelt präfigurieren. Und weiter noch, wie sich unterschiedlichste Ebenen von Beziehungen und Verbundenheiten in solchen Karten spiegeln. Ein Beispiel ist der Raum, der bis zu einem gewissen Grad eine Konstruktion ist, also auch eine Zuschreibung. Wenn wir auf einem Bahnsteig stehen und zum gegenüberliegenden Bahnsteig sehen, dann sind da zwei Gleise zwischen uns, und wenn wir uns die Entfernung zum anderen Bahnsteig vorstellen, dann denken wir eher den Weg, den wir gehen dürfen und den wir auch sicherheitshalber gehen sollten, über Treppen und durch Tunnel, obwohl doch die Entfernung zwischen den beiden Punkten eigentlich nur ein paar Meter beträgt.

SH: Mein Gedankenexperiment würde da noch weiter in den Raum greifen, würde das tatsächliche Reiseziel mit allen möglichen, von diesem Bahnhof aus erreichbaren Zielen, mitdenken. In meinen Arbeiten sind Raum und Zeit immer aufs Engste verbunden, weil ich in der Kartographie die Chronologie vollkommen aufhebe. Das ist nicht unbedingt neu, es gibt alte Karten, die diese Anforderungen aufheben, wunderbare, versponnene, relativ realistische Karten. Eine meiner Lieblingskarten ist eine Karte über Afrika aus dem frühen 19. Jahrhundert, auf der der französische Kartograph über alles Unbekannte einfach Wolken gesetzt hat, statt, wie sonst seinerzeit üblich, weiße Flächen zu lassen. Also einfach eine Landkarte, auf der alles, was nicht bekannt war, als bewölkt dargestellt ist.

RW: Ein deutlicher Fortschritt zu „Hic sunt dracones“, aber lassen Sie uns auf Ihre Berg-Skulpturen zu sprechen kommen. Sie schreiben an einer Stelle, dass es nicht das Gebiet hinter den Bergen war, das Sie interessierte, als vielmehr die Funktion der Berge als Grenze; das Gebirge als Scheidewand. Dieses Bild könnte metaphorisch auch für eine Denkwand stehen und die Frage aufwerfen, was sich hinter dieser befindet. Damit teilen wir die intellektuelle Herausforderung, Trennendes und Verbindendes inhaltlich bestimmen zu wollen.

SH: Ja, weil die Verbindung eine Konstruktion ist und zumeist auch spannender als das, was ich in der Realität sehe.

RW: Verbindungen sind mächtig.

SH: Sie sind mächtig und konturieren den direkten Erfahrungsraum, der dadurch weniger bedrohlich wird. Wenn man im Allgäu bei schönem Wetter mit dem Fernglas nach Schwaben geschaut hat, konnte man Ulm sehen; dort war alles flach, es war alles in Ordnung, es war alles sicher. Auf der anderen Seite, nach Süden hin direkt mit einer Gebirgswand konfrontiert zu sein, stellte eine Verunsicherung dar, da man nicht wusste, was sich dahinter verbarg. Ich erinnere mich an meine erste Bergbesteigung der Nagelfluhkette mit meiner Mutter. Eine ganz frühe Erinnerung, ich war etwa fünf Jahre alt und musste da hoch und dann, als ich oben war, wurde ich wahnsinnig enttäuscht, weil sich dahinter wiederum Berge auftürmten. Dieses Erlebnis ist mir als sehr frustrierend in Erinnerung geblieben. Ich hatte alles Mögliche erwartet, aber nicht das Gleiche nochmal zu sehen.

RW: Die Globalgeschichte hat sehr früh damit begonnen, Verbindungen und Verbundenheit zentral zu setzen. Allerdings gab es lange kein überzeugendes Konzept, worin eine Verbindung, über die traditionellen Linien wie Schifffahrts-, Handelsrouten oder Migrationsbewegungen hinaus, überhaupt bestehen kann. Dabei gibt es so viel subtilere Formen der Verbundenheit, wie zum Beispiel eine Projektion wie die, die Sie gerade beschrieben haben. Was also stelle ich mir vor, wie fülle ich diese Leerfläche, auf die ich meine eigenen Ideen, Bedürfnisse, Wünsche projizieren kann? Das ist auch für Historiker/innen unglaublich interessant, da solche Projektionen Grundlage für das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen sind. Die Vorstellung von etwas, Fernweh zum Beispiel, ist eine ganz klare Verbindung, die einen Menschen dazu bringen kann, etwas tun.

SH: Mit dieser Einbindung der Emotionen in die Methodik rücken unsere Positionen wieder ganz eng zusammen! Der Historiker scheint nun nahezu künstlerisch zu argumentieren. Zumindest wird die Vorstellung negiert, dass ein Gedanke, der auf Emotionen oder Projektionen basiert, nicht quellenfähig oder unseriös sei.

RW: Das bringt mich zu der grundsätzlichen Frage, was die Aufgabe von uns Historiker/innen ist und ich definiere das für mich folgendermaßen: Wenn ich ein klein wenig dazu beitragen kann, uns Menschen und unser Tun und Denken besser zu verstehen, und dazu den Blick in die Vergangenheit nutzen kann, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt. Wenn ich unter dieser Prämisse arbeite, dann muss mir jeder Anhaltspunkt, der mir hilft, das Denken und Handeln eines Akteurs, einer Akteurin, zu verstehen, gleich viel wert sein. Dabei kann es keine Rolle spielen, ob ich den Antrieb wirklich fest greifen kann, oder ob jemand motiviert wird durch eine Vorstellung von etwas, durch eine Sehnsucht. Sie haben recht, dass hier „weiche“ Fakten stärker zum Tragen kommen müssen. Insgesamt bin ich, um das abschließend zu sagen, fasziniert davon, wie viele meiner eigenen Forschungsfragen auch einen Raum in Ihren Werken haben: Diskonnektivität, Habitabilität, Biographie und Akteur/innen sind alles Themen, die mich umtreiben, und die sich in Ihrer Vorstellungswelt ebenso finden.

SH: Auch ich habe wichtige Anregungen aus Ihren Arbeiten gezogen, da ich bisher Biographie und Globalgeschichte als viel zu antipodisch gedacht habe. Das systematische Nachdenken über Verbindungen erlaubt mir, Biographie in ihren Beziehungen in Raum und Zeit, mit allen Themen, allen Aspekten, die mich beschäftigen, klarer zu verorten.

Annette Meyer (AM): Im Namen des CAS darf ich mich sehr bei Ihnen beiden für das hochinteressante Gespräch bedanken, das einmal mehr gezeigt hat, wie komplementär sich Kunst und Wissenschaft zu vielen Fragen verhalten. Darüber hinaus ging es um die Freiheit der Kunst und die Selbstbescheidung der Wissenschaften. Vielleicht sollte man die Perspektive der Kunst nicht nur als komplementäre Sicht auf die Welt, sondern darüber hinaus als Quelle oder alternative Methode zur Wirklichkeitserschließung wahrnehmen. Huber betreibt in seinen Werken eine Diskursanalyse, wie sie sich die Wissenschaften meist versagen.

RW: Absolut. Und neben dem Diskursanalytiker steht der Akteur Stephan Huber, der tief mit der Geschichte seiner Zeit verflochten ist.

SH: Es geht immer um alles, es geht immer um einen selbst und im selben Moment um alles. Ein Künstler ist freier als ein Wissenschaftler.

AM: Herzlichen Dank!

Vom 28. April bis zum 1. Juli 2022 zeigt das CAS (Center for Advanced Studies) eine Auswahl von Werken Hubers, in dessen Mittelpunkt das Kunstwerk "Shining" aus dem Jahr 2001 steht.

Stephan Huber, Roland Wenzlhuemer, Shining, CAS LMU Blog, 01 July 2022, https://doi.org/10.5282/cas-blog/39
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