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Die Natur des Lebendigen. Überlegungen zur Naturbetrachtung in Wissenschaft und Kunst

Gudrun Kadereit, 27 October 2022

Ausgehend von den faszinierenden Werken Alexandra Hendrikoffs und Thomas Sebenings möchte ich einige Überlegungen zu den verschiedenen Formen der Naturbetrachtung in Wissenschaft und Kunst anstellen.

Alexandra Hendrikoff: Mère Animal, 2018, Transparentpapier, Strohseide, Gaze, Garn, Wiesenbocksbartsamen, Bohnen, Süßgrassamen, Pappelsperrholz, 60 x 44 x 20 cm

Die Ausstellung der beiden Künstler am CAS trägt den Titel „Die Natur des Lebendigen“. Das klingt, als wollten die beiden dem Lebendigen auf den Grund gehen, die Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien oder auch die Bausteine und grundlegende Zusammensetzung des Lebendigen ergründen. Dazu passt, dass beider Werk etwas in hohem Maße Organisches ausstrahlt. Bei mir entstehen schnell Assoziationen mit mir bekannten Strukturen und Lebewesen. Mein Eindruck ist aber auch, dass beide sich dem Thema „Natur des Lebendigen“ auf sehr unterschiedliche Art und Weise widmen und nähern.

Thomas Sebening: Freiflug – Fata Morgana, 2019, Aquatinta, Chine collé auf Zerkall Bütten, Papier: 27,0 x 28,0 cm/Motiv: 11,8 x 16,0 cm

In den Arbeiten von Thomas Sebening findet, wie mir scheint, eine Reduktion oder besser gesagt Konzentration auf das Wesentliche statt. Die ganz exakte Linie mit dem richtigen Bogen und Schwung, der richtige Farbton oder der genaue Farbübergang stehen für mich hier im Vordergrund. Ich stelle mir etwa vor, dass der Verlauf der Linien in einigen der hier gezeigten Arbeiten unabänderlich definiert ist. Er ist nicht zufällig gewählt. Die Linie beschreibt etwas Bestimmtes. Das kann Verschiedenes sein, z.B. die Strecke, die der in Westafrika verbreitete, nachtaktive Goliathfrosch jede Nacht auf der Tour durch sein Revier aus mit Steinen selbstangelegten Tümpeln zurücklegt. Die Besonderheit dabei ist die Unabänderlichkeit seiner Route: Er legt jede Nacht die gleiche Strecke zurück. Oder die Linie beschreibt die exakte Flugbahn eines vom Wind verbreiteten Samens, an den ein Minisender geheftet war. Dieser hat die genaue Flugbahn des Samens aufgezeichnet. Oder es handelt sich gar nicht um eine zurückgelegte Strecke, weder vom Goliathfrosch noch von einem Samen, sondern die Linie beschreibt eine Frucht mit Flügeln und wie idealerweise diese Flügel beschaffen sein sollten, welchen Schwung sie für die besten Flugeigenschaften benötigen.

Bei den Farbübergängen in den Arbeiten muss ich an Horizonte denken, echte oder sogenannte Bodenhorizonte, an Barrieren oder an zwei Ströme, die aneinander vorbeifließen und sich aus irgendwelchen Gründen nicht mischen können. Es könnten aber auch Schichten in Bohrkernen aus organischen Ablagerungen sein oder der – möglicherweise einzige – Durchgang ins Innere von Irgendetwas. Ich finde, dass sehr viel Energie in den Bildern steckt, genauso zeugen sie aber von Ruhe und viel Geduld.

Dabei fällt mir noch ein weiteres verbindendes Element der Werke von Thomas Sebening und Alexandra Hendrikoff auf: Sie rufen Assoziationen in verschiedenen Dimensionen hervor. Ihre Arbeiten geben mir als Biologin spannende Rätsel auf, die ich gerne lösen würde: Zum Beispiel die Identifizierung eines biologischen Objektes, das ich eigentlich kennen sollte. Oder die Erkennung einer biologischen Gesetzmäßigkeit, die ich im Studium gelernt haben sollte. Aber das sind sehr schwierige Rätsel, besonders im Fall der Arbeiten von Thomas Sebening. Man weiß nicht genau, womit man es zu tun hat. Es kann sich um etwas sehr Kleines, das man nur mit dem Mikroskop beobachten kann, oder aber auch um etwas sehr Großes handeln. Der Maßstab fehlt, eine Skala, die man anlegen kann.

Auf der anderen Seite kann es sich auch um etwas handeln, das sich im Inneren von etwas befindet. Oder aber auch um etwas, das durch ein Fernglas betrachtet wird und in weiter Ferne liegt. Aber vielleicht spielt in den Arbeiten von Thomas Sebening die Größe, die Distanz oder auch die Zeit gar keine Rolle? Denn das Dargestellte ist eventuell ganz grundlegend und beschreibt eher biologische Phänomene, während es bei Alexandra Hendrikoff eher um ganz konkrete Organismen geht, die jedoch viele Dimensionen und viele Möglichkeiten der Wahrnehmung für alle Betrachter haben.

In ähnlicher Weise gibt es diese Unklarheit bezüglich der Größe auch bei verschiedenen Objekten von Alexandra Hendrikoff. Es könnte sich sowohl um Mikroorganismen als auch um riesige Meeresbewohner, um große terrestrische Schmarotzer oder etwas ganz anderes handeln. Auch hier ist es schwer, den Arbeiten eine Größendimension zuzuordnen. Eine zeitliche Einordnung in dem Sinne, dass man erahnen könnte, wann in der Erdgeschichte die Organismen von Alexandra Hendrikoff entstanden sind, ist ebenfalls nicht so einfach möglich. Für eine Biologin ist das verwirrend und faszinierend zugleich. Es könnte sich um urzeitliche Kreaturen handeln, die längst ausgestorben sind, oder aber um Lebewesen, die die Evolution erst in 2 Millionen Jahren hervorbringen wird. Alexandra Hendrikoffs Lebewesen könnten gar von einem anderen Stern stammen, bei der letzten Weltraummission zu irgendeinem weitentfernten Planeten entdeckt worden sein und wissenschaftlich klassifiziert. Sie könnten in den mitgebrachten Erdproben gelebt haben und sind demnach winzig klein.

Wenn man die Arbeiten von Alexandra Hendrikoff betrachtet, sieht man organismische Organisationsformen, die es so in Wirklichkeit nicht gibt, aber es ist durchaus vorstellbar, dass es sie geben könnte. Es finden sich Nervaturen, Gefäße, Haare, festigende Strukturen, weiche Strukturen, verschiedene Schichten und Gewebe, sie sind durchlässig – man sieht, es geht irgendwo rein und auch wieder raus – es entstehen eine Ordnung und grundlegende Elemente, die sich sehr natürlich zu größeren Strukturen zusammenfügen. Diese Strukturen und Formen scheinen eine bestimmte Funktion zu haben. Aber irgendwas stimmt nicht, jedenfalls aus der Sicht einer Biologin. Etwas, das im ersten Moment wie ein anatomischer Schnitt durch pflanzliches Gewebe aussieht und normalerweise keine Haare hat. Etwas, das wie eine Blüte aussieht, ist normalerweise nicht vorne und hinten offen.

Als Biologin möchte ich eigentlich von meinen Objekten nicht nur wissen, wie sie aussehen, sondern auch ihre gesamte Biologie kennenlernen. Ich möchte wissen, wo und wie sie leben, im Wasser oder in der Luft? In der Erde oder in einem Medium? Ein Medium, das es hier auf der Erde vielleicht gar nicht gibt? Ich möchte wissen, wodurch sie ihre Energie gewinnen und wie sie wachsen. Fressen sie etwas oder müssen sie aufpassen, dass sie nicht gefressen werden – wo stehen sie also in der Nahrungskette? Leben sie im Rudel oder sind es Einzelgänger? Ich möchte wissen, mit welchen anderen Lebewesen sie interagieren, werden sie parasitiert oder sind sie selbst Parasiten? Wie alt werden sie? Können sie sich bewegen, schwimmen, fliegen oder haften sie irgendwo an? Wie vermehren sie sich? Gibt es Geschlechter und wenn ja, sehen diese unterschiedlich aus? Aus welcher Organismenlinie sind sie entstanden? Und wann in der Evolution? Geben sie Laute von sich, gibt es überhaupt eine Kommunikation zwischen verschiedenen Individuen? Wie riechen sie oder schmecken sie? Kann ich sie essen oder sind sie vielleicht giftig?

Diese und tausend weitere Fragen bleiben im Verborgenen. Aber es ist ja bereits genug da, um meine Phantasie zu beflügeln. Ich frage mich, ob sich Alexandra Hendrikoff eine Biologie zu ihren Arbeiten überlegt hat. Ob sie sich vorgestellt hat, wo und wie ihre Kreaturen leben oder zu welcher Kreatur die organische Struktur, die sie geschaffen hat, gehört und welche Funktion sie hat.

Die Werke beider Künstler haben mich sehr fasziniert und es hat mir große Freude bereitet, mich mit den ausgestellten Arbeiten zu beschäftigen.

Alexandra Hendrikoff studierte Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste München. Neben ihrer Bildhauerei trat sie 2014 mit der Monografie „Metamorphosis“ hervor.

Thomas Sebening studierte Malerei, Grafik und Radierung an der ENS des Beaux-Arts in Paris. Seit 2001 lehrt er neben seiner künstlerischen Tätigkeit Radierung an der Akademie der Bildenden Künste München.

Vom 28. Oktober 2021 bis 28. Februar 2022 zeigt das CAS (Center for Advanced Studies) eine Auswahl der Werke von Alexandra Hendrikoff und Thomas Sebening. Beide Künstler erschließen sich dabei auf ganz unterschiedliche Weise ihr gemeinsames Thema: die Natur des Lebendigen.

Gudrun Kadereit, Die Natur des Lebendigen. Überlegungen zur Naturbetrachtung in Wissenschaft und Kunst, CAS LMU Blog, 27 October 2022, https://doi.org/10.5282/cas-blog/41
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