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Ursprüngliche Erfahrungen von Farbe und Form. Zur Malerei von Friedrich G. Scheuer

Friedrich Vollhardt, 29 April 2021

Ohne Titel, 2020, Acryl auf Papier, 69,4 x 99,4 cm.

Erinnern wir uns für einen Moment an die zahlreichen Fotografien, die vorgeben, Künstler in ihrem Atelier bei der Arbeit zu zeigen. Mit diesen Aufnahmen ließe sich eine Kunstgeschichte illustrieren, die vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht, von Pablo Picasso über Jackson Pollock bis hin zu Georg Baselitz. Dabei kann der Maler in action gezeigt werden oder, was häufiger der Fall ist, in einer kontemplativen Haltung, wobei die Kamera neugierig seinem Blick auf das Werk folgt. Gerne möchte man sehen, was der Künstler beobachtet hat, um es im nächsten Augenblick zur Form werden zu lassen, mit der er unsere Aufmerksamkeit lenken und zu neuen Einsichten führen wird.

In den Publikationen und Werkverzeichnissen von Friedrich Scheuer sucht man vergeblich nach einer solchen Fotografie. Beim Durchblättern des großen Katalogs der Bilder und Arbeiten auf Papier 1994 – 2012 trifft man stattdessen auf eine nicht näher datierte Farbaufnahme, die den Künstler in einer extremen Situation zeigt, weit entfernt vom Atelier. Das Bild hält fest, wie er in einer steilen, leicht überhängenden Felswand im Hochgebirge klettert; sein Blick richtet sich auf eine für den Betrachter verborgene Route im Fels, während die Kamera den Abgrund zeigt, der sich unter ihm öffnet. Der Bergsteiger bewegt sich an einer Grenze. Nur seine individuelle Technik, die Konzentration und Fingerkraft sichern ihm das Überleben. Es handelt sich um eine existentielle Grunderfahrung, die mit dem künstlerischen Schaffensprozess vergleichbar ist, den die Fotografie antizipiert. Die Momentaufnahme gehört daher in den Katalog der malerischen Werke, deren Entstehung sie kommentiert. In einer seiner subtilen Reflexionen zu unserem ästhetischen Weltverhältnis hat Friedrich Scheuer angedeutet, worauf hier verwiesen wird:

Ein Mann steigt hinauf. Er schwärmt nicht. Er sucht die Klarheit bloßen, leibhaftigen Handelns, ohne Umschweife, ohne Dekor: gehen, in die Höhe steigen, greifen, um nicht zu stürzen, unbeirrbar das Notwendige tun, der ganze Körper ein Organ, sich und das Naturgegebene wahrzunehmen. Tun und Denken untrennbar eins: Jeder Schritt, jeder Tritt, jeder Griff, der gezogen wird, durchquert das Bewusstsein. Jede Bewegung beginnt im Auge.
So entsteht Form; Form der Fortbewegung − horizontal, vertikal, Form als ästhetisches Faktum, als Einheit seiner Faktoren Natur, Körper, Geist. Form des Reichtums durch Reduktion.
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Es handelt sich um einen erzählenden, ja poetischen Text, der gleichwohl auf Grundsätzliches zielt. Hat nicht Descartes in seinen Meditationen gezeigt, dass es die Verbindung von Körper und Geist ist, die zu einem Zweifel an unseren Sinnesdaten führen kann, der universal ist, zugleich aber den Weg zur Erkenntnis öffnet? Kann die Kunst in diese Meditation eintreten und dabei die Führung übernehmen? Nicht ohne Grund hält Friedrich Scheuer die Philosophie für „die nächste Verwandte“ der Kunst, mit dem Zusatz: „Bloß keine Kommunikations- und Informationstheorien.“2 Die polemische Einschränkung markiert den Abstand zwischen philosophischem Denken, das Wahrheit beansprucht, und einem bloßen Wissenserwerb, wie er unseren Alltag beherrscht, bis hinein in das Gespräch über Literatur, Theater, Film, Musik und Malerei.

Eine ähnliche Distanz hält Scheuer auch gegenüber den ästhetischen Selbstdeutungen von Künstlern, wie wir sie seit den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts kennen.3 Seine Überlegungen verraten dagegen eine überraschende Nähe zu klassischen Positionen, etwa der Philosophie Immanuel Kants, wenn er das Bild – für ihn eine „Ansichtssache“ − weit von allem Diskursiven abrückt: „Die Malerei sucht ein Bild der Repräsentanz begrifflicher Ungewißheit. […] Die ästhetische Existenz ersetzt das begrifflich Bestimmte, füllt sinnenhaft den bedeutungslosen Raum im Vorfeld der Definitionen: den Raum offener Möglichkeiten.“ Der Ort der Kunst ermöglicht die Freiheit einer Bewegung, in der sich Gefühls- und Empfindungsbereiche vermitteln, ohne auf Reales zu verweisen: „Lust und Schmerz, Flaches und Hintergründiges, Ordnung und Wirrnis sind Phänomene leibhaftiger Lebenserfahrung und einer Weltsicht, die sich zur Realität des Bildes ähnlich verhalten wie ein Apfel vom Baum zum Apfel im Bild Cézannes.“4

Hier ist an die Spontaneität im Spiel unserer Erkenntnisvermögen zu denken, wie sie Immanuel Kant am Ende der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft (1790) beschrieben und im Rahmen seiner Lehre von der ästhetischen Idee genauer bestimmt hat:

Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt.
Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anderes als das Vermögen der Darstellung
ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. − Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.5

Kants freies Spiel ist eines der Deutungsversuche. Die dieses Spiel auszeichnende Freiheit ist die Unabhängigkeit vom Begriff, im Falle des Kunstschönen durch die in ihm enthaltene Gedankenfülle bedingt − „kryptisch vermittelt“, wie Scheuer ergänzt: „intuitiv, fern von Begriffen und Meßbarkeit, eine Ahnung von maximaler Lebens- und Geistesdichte.“6 Es ist nicht möglich, den Sinn, die Aussageabsicht eines gelungenen Kunstwerks eindeutig und unproblematisch festzustellen, weil in ihm als gelungenem Kunstwerk die Darstellung des eigentlich nicht Darstellbaren geglückt ist.

Unter den Werken Friedrich Scheuers gibt es jedoch auch solche mit deutlichen Verweisen auf die reale Lebenswelt, etwa gemalte Daten, mithin formfeste „Zeichen kommunikativer Bestimmtheit“7 , die Geburts- und Todesjahre bedeutender Denker und Künstler festhalten. Je nach Farbwahl und Hintergrund erinnern diese Arbeiten an die Inschriften auf antiken Sepulkral-Gefäßen, ernst und – mit einem Wort Hegels – „versteint“8 zu einem Totenopfer, das Pathos erlaubt. In der Ausstellung findet sich als Beispiel das Zahlen-Gemälde 1900 | 2002, dessen Titel auf den Philosophen Hans-Georg Gadamer verweist. Mit dem Autor von Wahrheit und Methode teilt der Maler das Interesse an ästhetischen Grundfragen, wozu das Problem der Einheit von klassischer und moderner Kunst gehört. Um dieses zu lösen, geht Gadamer von der anthropologischen Basis unserer Welterfahrung aus. Zu dieser gehört der erwähnte Begriff des „Spiels“, der im Anschluss, aber auch in Kritik an Kant als Reflexionsleistung bestimmt wird. Vor allem die gegenstandslose Kunst der Moderne verlangt dem Betrachter diese Leistung ab, wenn er in eigener Regie die Farbfelder und Strichformationen eines abstrakten Gemäldes zu synthetisieren hat, um am Ende „von der tiefen Stimmigkeit und Richtigkeit“ des Werkes genauso überzeugt zu sein, „wie das in früheren Zeiten auf der Basis einer gemeinsamen Bildinhaltlichkeit fraglos geschah.“9

Die Kenntnis der alten Kunst kann sich bei der komplexen Dechiffrierung moderner Gemälde gleichwohl als hilfreich erweisen, da das historische Bewusstsein eine Art „Instrumentation der Geistigkeit unserer Sinne“10 bildet, welche die Kunsterfahrung zu leiten versteht. Das gilt auch umgekehrt. Erst im 20. Jahrhundert sind Farbreliefs, -schichten und -flächen von einer Intensität entstanden, die den an diesem Darstellungsstil geschulten Beobachter in die Lage versetzen, mittelalterliche Tafelbilder neu wahrzunehmen, strukturelle Gemeinsamkeiten zu erkennen und so ästhetische Entdeckungen zu machen:

Die Heiligen Cosmas, Damian und ihre Brüder werden gekreuzigt, gesteinigt und mit Pfeilen beschossen. Rot, von Rosa bis Karmin, Gelb, Gold, Ocker und die Sieneser Erde, die Farbe von Haut und die eines blaugrauen Himmels geben den Ton an. Blau schürt das Feuer des Zinnober und stumpfes Ocker-Grün der Wiese und der Bäume Laub vermittelt zwischen den Kontrasten.11

Erzählt Fra Angelico (1395/1400 − 1455) eine Geschichte? Zweifellos, doch wer nur an dieser interessiert ist, verlässt das Bild und versetzt sich in die dargestellte Folterszene, wovor der Interpret eindringlich warnt: „Im Bild bleibt, der sieht: hier und jetzt im alten Bild der älteren Legende die Gegenwart. Er löst die Zeit des Bildes auf in der Zeit seines Wahrnehmens.“12 Das gilt auch für Gemälde von Tizian, Grünewald und Beckmann, denen Scheuer ähnlich kongeniale Deutungen widmet.13 Die europäische Kunstgeschichte hat er damit vom Mittelalter bis zu den eigenen Anfängen ausgeschritten und sich – wie in der Philosophie der Kunst – mit der Herkunft aus der Tradition auch des eigenen Standorts in der Gegenwart vergewissert.

Ohne Titel, 2012, Aquarell auf Papier, 30 x 24 cm.

Tragen die großen Vorbilder etwas zur Erklärung des Kunstschaffens von Friedrich Scheuer bei? Das ist anzunehmen und zugleich fraglich. Schauen wir uns um – an den in diesen Räumen gezeigten Arbeiten wird sofort erkennbar, dass es sich um Werke eines äußerst disziplinierten Künstlers handelt, der sein Auge und die Finger nicht im Museum, sondern beim Klettern trainiert hat, wie man an der formstarken Technik sieht: Dem Pinsel, der bereits im Ansatz nicht fehlgreifen darf, und dem Strich, der zu einer dynamischen Linie wird, die zum Ziel führt oder an einem meditativen Punkt innehält. Das alles vollzieht sich in einer Spannung und mit einer Kraft, die zu Bewegungsabläufen führt, denen der Blick über alle Kaskaden und durch alle ikonischen Verdichtungen gebannt folgt. Ob aus dieser Bewegung eine Klarheit entsteht, die zuvor nicht vorhanden war? Gibt sie uns Aufschluss über die Welt, in der wir leben? Der Künstler zieht uns in solche Konstellationen, ohne mit den von ihm entworfenen, in ihrer Komplexität stets transparenten Formen zu behaupten, dass sich in deren Tiefe ein geheimes Wissen vom Ganzen verbirgt. Das beeindruckend breite und vielgestaltige Œuvre von Friedrich Scheuer verschließt sich den zu einfach gedachten Sinnofferten einer New Age-Mystik. Dennoch findet sich bei ihm „die Ausrichtung auf ein Unbestimmtes“, eine im Bild enthaltene Vorstellung von dem Gründenden: „Verweisung ist möglich, es gibt Geist“14 – beim Gang durch die Ausstellung wird das spürbar.

  1. F. G. Scheuer: Im Freien. München: Allitera 2010, S. 19.
  2. Berge und andere Höhepunkte der Malerei. Friedrich G. Scheuer im Gespräch mit Angelika Eisenberg und Andreas Strobl. In: Bilder und Arbeiten auf Papier 1994 – 2012. München: Verlag Fred Jahn o. J. (2012), S. 20: „Das Stiefkind Metaphysik müsste gepäppelt werden. Schelling, Bergson und Konsorten im Augustiner, bierselig die Intuition mit rationaler Genauigkeit lallend.“
  3. Zu dieser für die Kunst der Moderne wenig ertragreichen Gattung Dieter Henrich: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel). In: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion, hg. von Wolfgang Iser. München: Fink 1966, S. 11-32, bes. S. 13: „Als zureichende Deutung der Situation der Kunst können sie (sc. die Künstlerästhetiken) nicht gelten, weil die meisten von ihnen an populäre, gleichsam laientheologische Prämissen gebunden bleiben, die dem Fortgang der Einsicht und dem Stand der Begrifflichkeit in der neueren Philosophie nicht gewachsen sind.“
  4. Friedrich G. Scheuer: Sehen lesen (Unmöglich). München: D. P. 2006, S. 16 und 27.
  5. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Heiner F. Klemme. Hamburg: Felix Meiner 2001, S. 201f.
  6. Scheuer: Sehen lesen (Unmöglich), S. 44f.
  7. Scheuer im Gespräch mit Eisenberg und Strobl, S. 14.
  8. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 13: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 464.
  9. Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart: Reclam 2012, S. 13f.
  10. Ebd., S. 18.
  11. Scheuer: Sehen lesen (Unmöglich), S. 87f.
  12. Ebd., S. 89.
  13. Ebd., S. 92-104.
  14. Wolfram Hogrebe: Beuysianismus. Expressive Strukturen der Moderne. München: Fink 2011, S. 95: diese Ausrichtung bildet „das Herzkranzgefäß der Moderne“.

Der 1936 in Bad Aibling geborene Friedrich G. Scheuer lebt und arbeitet heute in München. Dort besuchte er in den Jahren 1959 – 1963 die Akademie der Bildenden Künste, wo er ab 1973 auch lehrte. 2015 wurde Scheuer zum ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ernannt. Zuletzt (2020) waren seine Arbeiten in der Galerie Fred Jahn in München zu sehen.

Vom 29. April bis zum 31. Juli 2021 zeigt das CAS (Center for Advanced Studies) eine Auswahl von Werken Scheuers, in denen er sich mit der wissenschaftlichen Aneignung von Welt auseinandersetzt.

Friedrich Vollhardt, Ursprüngliche Erfahrungen von Farbe und Form. Zur Malerei von Friedrich G. Scheuer, CAS LMU Blog, 29 April 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/23
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