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Max Weber in der Emigration

Thomas Meyer, 14 July 2021

Nicht ohne ihren Max Weber. Man könnte eine Ideengeschichte der Emigration deutscher Jüdinnen und Juden nach der sogenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 schreiben, indem man ihre Weber-Rezeption in den Blick nimmt.

Hannah Arendt, Reinhard Bendix, Aron Gurwitsch, Siegfried Landshut, Emil Lederer, Karl Loewenstein1 , Karl Löwith, Karl Mannheim, Albert Salomon, Alfred Schütz und Leo Strauss sind zu nennen, aber natürlich nicht nur diese Namen hätte die ungeschriebene Geschichte mit aufzunehmen. Wer Bendix erwähnt, muss an Louis Wirth, einen der Weber-Pioniere in den USA, erinnern. Lederer, Salomon und Strauss stehen stellvertretend für die, man kann es für die dreißiger bis frühen fünfziger Jahre nicht anders sagen, gesamte „Graduate School“ an der „New School for Social Research“ in New York. Arendt bekam Weber in Frankfurt über Mannheim vermittelt und hatte zuvor schon bei ihrem Doktorvater Karl Jaspers über ihn gehört und war auch in den Kreis um Marianne Weber eingeladen worden. Wegen Jaspers’ offensiv deutschtümelndem, im rechten Stalling-Verlag erschienenen Büchlein „Max Weber – Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren“ geriet sie 1932 in scharfen Streit mit dem Heidelberger Denker. Der Philosoph und Heidegger-Schüler Karl Löwith hörte Max Weber noch, ebenso der Ökonom Emil Lederer und der Münchner Jurist Karl Loewenstein. Siegfried Landshut, einer der Mitbegründer der Politikwissenschaft in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, publizierte seine erste Arbeit über Weber nach dem Krieg in der u.a. von Julius Guttmann herausgegebenen Zeitschrift „Iyyun“ („Betrachtung“) auf Hebräisch. Der Philosoph Guttmann wiederum war ein Sombart-Schüler, der sowohl zu den Studien seines Lehrers als auch zu denen Webers zum Judentum Kritiken schrieb, die bis heute viel beachtet werden.2

Aron Gurwitsch und Alfred Schütz sollen in diesem kleinen Panorama die phänomenologische Tradition vertreten. Die beiden eng befreundeten Denker erinnerten sich gegenseitig an die Bedeutung Webers für „ihre Generation“. Auf den ersten „Davoser Hochschulkursen“ 1928 habe der Soziologe im Mittelpunkt der Diskussionen mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihres Alters gestanden. Und Weber begleitete sie durch ihre gesamte (intellektuelle) Biographie.

Natürlich war die Emigration nicht der Auslöser für die Genannten, sich mit dem Moderne-Theoretiker und -Diagnostiker Weber zu beschäftigen. Loewenstein war schon 1923 bei der zweibändigen „Erinnerungsgabe“ vertreten, ebenso wie die späteren Emigranten Carl Landauer, Emil Lederer, Hermann Kantorowicz und Paul Honigsheim. Der Herausgeber der „Erinnerungsgabe“ Melchior Palyi hatte nach Webers Tod bei verschiedenen Editionen von Schriften des Soziologen mitgewirkt und war ebenfalls 1933 emigriert. Der Romanist jüdischer Abstammung Leo Jordan nahm sich 1940 in München das Leben, nachdem er sieben Jahre zuvor von der LMU entlassen worden war.

Bleiben wir einen Moment bei der „Erinnerungsgabe“, denn auch andere Beiträger verdienen hier genannt zu werden: Ferdinand Tönnies und Arthur von Rosthorn, beide nichtjüdisch, wurden von den nationalsozialistischen Machthabern auf unterschiedliche Weise drangsaliert. Während von Rosthorn 1938 „nur“ seine Honorarprofessur in Wien verlor, wurde Tönnies regelrecht verfolgt, seiner finanziellen Existenzgrundlage beraubt und seine Familie unter Sippenhaft gestellt. Vier seiner fünf Kinder emigrierten, andere „Weberianer“, so etwa Leo Strauss, blieben mit der Familie Tönnies in Kontakt. Heinrich Sieveking, Richard Thoma und Karl Vossler zogen sich in die innere Emigration zurück – in diesen Fällen keine bloße Entschuldigungsformel. Richard Thomas Versuch, sich 1937 mit seinem Buch „Staatsfinanzen und die Volksgemeinschaft“ dem neuen Regime anzubiedern, war selbst den Nationalsozialisten peinlich und blieb unbeachtet. Der große liberale Staatsrechtler und überzeugte Demokrat Thoma wurde später zu den Beratungen des Grundgesetzes hinzugezogen. Der Soziologe und Ökonom Carl Brinkmann wurde 1933 entlassen, unterstützte aber in einigen seiner Schriften den Nationalsozialismus bzw. diese wurden entsprechend instrumentalisiert.3

Nach dem Erscheinen der „Erinnerungsgabe“, Marianne Webers Biographie ihres Mannes, und den ersten Editionen seiner Schriften, setzte um 1930 eine erste bedeutende Rezeptionswelle ein, maßgeblich mitgeprägt von einigen der hier genannten Emigranten. Landshut schrieb 1931 über „Max Webers geistesgeschichtliche Bedeutung“, ein Text der mitten in seiner intensiven Auseinandersetzung mit Karl Marx entstand.4 Löwith legte 1932 mit seiner buchlangen Studie über Marx und Weber nach, ein Text, der Webers Denken zum ersten Mal umfassend kontextualisierte – zudem ein Text, der zwar oft in Fußnoten auftaucht, aber, wie so häufig im Falle Löwiths, als Selbstpositionierung nicht verstanden wird. 1945 reagierte darauf wiederum Landshut mit dem besagten Aufsatz in „Iyyun“, der das „Wesen der modernen Gesellschaft nach Karl Marx und Max Weber“ behandelte. Zwischen Löwiths Aufsatz und Landshuts „Antwort“ lag die die gesamte Marx-Rezeption verändernde Ausgabe der „Frühschriften“ Marx’ in zwei Bänden, die Landshut maßgeblich ediert hatte. 1953 legte er eine einbändige Fassung mit einer umfangreichen Einleitung vor, die noch ganz den Geist der Weimarer Marx- und Weber-Debatten atmete. Auch danach blieb Landshut der Weber-Forschung erhalten. Die Heidelberger Emerita Uta Gerhardt hat in zwei großartigen Aufsätzen über den „15. Deutschen Soziologentag“ vom 28. bis 30. April 1964 das Treffen als Wendepunkt der Rezeptionsgeschichte ausgemacht und die Rolle der Remigranten auf dem Kongress untersucht. Unter dem Motto „Max Weber und die Soziologie heute“ verhandelte man anlässlich des 100. Geburtstages dessen Leben und Werk. Statt auf die zahlreichen Beiträge dort einzugehen, sei an ein ikonisches Bild erinnert, das sich nicht zuletzt „dank“ Wikipedia überall aufrufen und gemeinfrei reproduzieren lässt. Beim beliebten Rätselspiel „Wen erkennst Du?“ werden die meisten Horkheimer, Adorno und Habermas identifizieren – von links nach rechts. Doch der Herr, der den Photographen direkt anschaut, äußerst links steht und auch distanziert von den anderen, war zu der Zeit der einzige Weber-Kenner unter den Abgebildeten. Habermas, der erst später ein äußerst spannender Weber-Deuter werden sollte, verharrte seinerzeit in Weber-Ressentiments (das war bei Adorno und Horkheimer nicht anders). Der Herr außen links jedoch war ein Veteran der Forschung und ein besonderer remigrierter Zeitzeuge: Siegfried Landshut.

Deutscher Soziologentag 1964 in Heidelberg; von links nach rechts: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. Außen links im Hintergrund: Siegfried Landshut.
Foto von Jeremy J. Shapiro.

Auch Karl Löwith, der nach Stationen in Italien, Japan, den USA, also nach einer Weltumrundung nach Deutschland zurückgekehrt in Heidelberg lehrte und dort emeritiert wurde, blieb Weber treu. Für Löwith gehörte Weber zu den prägenden Figuren des 20. Jahrhunderts, deren Präsenz nach dem Ersten Weltkrieg Anlass zur Hoffnung gab, dass er eine wichtige Rolle im Nachkriegsdeutschland spielen würde. Löwith, nicht zur Verklärung neigend und zugleich die Grenzen der Vernunft ausleuchtend, sah in Webers Werk Verdichtungsleistungen aus soziologischer Analyse und dem philosophisch „geschulten rücksichtslosen Blick“ zu einer geistigen Energie zusammenfinden, die keiner seiner selbst erklärten Nachfolger je erreicht habe. Man könnte Teile von Löwiths Philosophie durchaus als Versuch werten, die Lücke zu schließen, die durch Webers frühen Tod entstanden war. Wenn es auch kaum gelingen konnte sie auszufüllen, so hatte Löwith doch zumindest auf deren fatale Größe hingewiesen.

Hinter „Dr. A. Arndt“ verbirgt sich der berühmte Jurist und SPD-Abgeordnete Adolf Arndt, der als „Halbjude“ im „Dritten Reich“ verfolgte wurde. Privatbesitz.

Landshut kehrte nach Deutschland, genauer nach Hamburg zurück und wurde zusammen mit einem anderen Weber-Leser, nämlich dem nach Berlin zurückgekehrten Ernst Fraenkel, einer der Gründerväter der deutschen Politikwissenschaft. Der Ur-Münchner Loewenstein hingegen blieb in den USA, pflegte intensive Kontakte in seine frühere Heimat und lehrte auch in Deutschland. Vor allem aber publizierte er weiterhin umfassend auf Deutsch. Seine „Verfassungslehre“ und die Konzeption einer „wehrhaften Demokratie“ werden seit einiger Zeit wieder diskutiert. Von seinen Texten zu Weber nach 1945 sticht die Abhandlung „Max Webers staatspolitische Auffassungen in der Sicht unserer Zeit“ heraus. Darin verfolgte Loewenstein konsequent und kritisch Webers vergleichende Staatsformenanalysen in den Entwicklungen seiner Zeit.

Kritisch kann das nicht mehr genannt werden, was Leo Strauss gegen Max Weber vorzubringen hatte. Nachdem Strauss im Februar 1949 an die University of Chicago kam und dort die bereits berühmten „Walgreen Lectures“ halten durfte, nahm er sich Weber vor, um seine Ablehnung der Moderne zu exemplifizieren. Das wurde seinerzeit nicht nur in Chicago – an der Universität hatte man Weber vor allem am renommierten „Committee on Social Thought“ zum Mittelpunkt der Gegenwartsanalyse gemacht – als massiver Affront gewertet. Strauss’ Vorlesung und deren erstes, in der hauseigenen Zeitschrift „Measure“ vorgelegtes Ergebnis versuchten die Weberianer, allen voran der Wirtschaftshistoriker John Ulric Nef, wegen des schlechten Englisch und inkohärenter Argumentation zu verhindern. Strauss arbeitete den Text mehrfach um und verschärfte ihn noch weiter, als die erweiterte Weber-Abrechnung 1953 in seinem Buch „Natural Right and History“ erschien und fortan die Neugier zahlloser Studentinnen und Studenten weckte. Wer war denn dieser Weber, dass man ihn so für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts verantwortlich machte? Wolfgang J. Mommsens Weber-Kritik von 1959 nahm sich dagegen wie ein laues Lüftchen aus.

Es ist hier nicht der Ort, jede(n) der Genannten einzeln vorzustellen und zu würdigen. Es ließe sich aus der angedeuteten Konstellation, die noch deutlich erweitert werden könnte, leicht ein ganzes Forschungsprogramm über die Zusammenhänge von Weber-Rezeption und Emigration entfalten. Denn ein solches Programm wäre vonnöten, um die Weber-Analysen mit den Emigrationserfahrungen und den theoretischen Ansätzen der Genannten zusammenzubringen. Das sehr uneinheitliche Bild, das am Ende einer solchen Untersuchung zutage träte, wäre eines, das Webers Zentralstellung für die Genannten nur bestätigen würde. Seine Moderne-Diagnosen, seine methodischen und methodologischen Überlegungen, die Zeitanalysen und nicht zuletzt seine geschichtstheoretischen Reflexionen waren für viele, die sich Gedanken darüber machten, wie das 20. Jahrhundert zu verstehen sei, wie weitergedacht und weiter gelebt werden könne, unverzichtbar. Wie nah oder fern sie Weber auch immer standen.

Von den vielen „Max Weber“, die im Laufe der letzten einhundert Jahre nach seinem Tod kreiert wurden, dürfte der Weber der (R)Emigranten der Unbekannteste sein.

  1. Geboren als Karl Löwenstein in München.
  2. Siehe Julius Guttmann, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, in: Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums 69 (1925), 195–223. Wiederabgedruckt in dem Sammelband Max Webers Studie über das antike Judentum, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt/Main 1981, 289–326. Zu Sombart siehe Julius Guttmann, Die Juden und das Wirtschaftsleben, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 36 (1913), 149–212.
  3. Über Carl Schmitt, Richard Thurnwald und andere Beiträger, die sich zum Teil oder ganz und gar dem Nationalsozialismus und Vernichtungsantisemitismus verschrieben, sei hier nicht weiter berichtet. – Es mag als eine Ironie der Geschichte erscheinen, dass es Loewenstein war, der die Verhaftung Schmitts und die Beschlagnahmung seiner Bibliothek 1945 veranlasste.
  4. Siegfried Landshut, Max Webers geistesgeschichtliche Bedeutung, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 7 (1931), 507–516. Jetzt leicht zugänglich in der hervorragenden, von Landshuts Biographen Rainer Nicolaysen verantworteten zweibändigen Werkauswahl: Siegfried Landshut, Politik. Grundbegriffe und Analysen, Bd. II, Berlin 2004, 539–555.
Thomas Meyer, Max Weber in der Emigration, CAS LMU Blog, 14 July 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/29
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