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Gesellschaftsanalyse mit Weber. Über Bodenständigkeit und Nonkonformismus

Barbara Thériault, 22 June 2021

Noa Beschorner (NB): Es soll zunächst um die Relevanz von Max Weber für die Soziologie gehen?

Barbara Thériault (BT): Ja, um seine Soziologie und auch um seine Person, und auf welche Weise die Beschäftigung mit Weber dazu dienen kann, auf etwas Eigenartiges im gegenwärtigen Deutschland hinzuweisen.
Neben der Wertfreiheit und den Idealtypen hat Weber der Soziologie die Lebensführung als Forschungsgegenstand vermacht. Das Thema Lebensführung ist in der Weber-Forschung nicht neu, es genießt aber im Moment eine gewisse Konjunktur – von studentischer Lebensführung bis zur Lebensführung im Alter1 .
Die Lebensführung hat bei Weber eine biographische Dimension, wie eine Reihe von vorliegenden Biographien betonen. Lange habe ich gedacht, dass Erkenntnisse über Webers Leben nicht wichtig seien, um seine Soziologie zu verstehen und fruchtbar machen zu können. Außerdem mag – aus heutiger Sicht – einiges an seinem Leben irritieren.
Wenn man sich mit Lebensführung beschäftigt, entdeckt man zudem neben dem Soziologen, auch den Philosophen und Pädagogen Weber, wie Christian Marty unlängst in seinem Buch Max Weber. Ein Denker der Freiheit zeigte2 .
Marty argumentiert, dass Weber sich als Erzieher zur freiheitlichen Lebensführung versteht, und dass die Freiheit dabei Webers zentrales Anliegen ist – sowohl auf normativer als auch auf analytischer Ebene.

NB: Wie ein Lebensberater, ein Coach?

BT: Irgendwie schon, aber einer, der heute vielleicht nicht so populär wäre.

NB: Wie ist das zu verstehen?

BT: Bei der Lektüre von Martys Buch war ich leicht irritiert. Nicht über das Buch, es ist ein schönes Buch; eher über Max Weber selbst, über ihn als Person, als Erzieher. Es hat sicher damit zu tun, dass ich dieses Jahr mein Buch Die Bodenständigen. Erkundigungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft3 veröffentlicht habe, eine Sammlung soziologischer Feuilletons im Stile Siegfried Kracauers.
Als ich Martys Buch las, kam ich nicht umhin zu denken, dass Weber die Lebensführung der Menschen, die sich als „bodenständig“ bezeichnen, für verfehlt gehalten hätte, dass Webers Lebensideal ziemlich genau das Gegenteil von dem ist, was heute als bodenständig bezeichnet wird.

NB: Was hat Dich zu dieser Spekulation veranlasst?

BT: Mein Buch basiert auf Interviews und Beobachtungen, die ich mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft – Angestellten, Beamten, Pädagogen zwischen 40 und 55 Jahren in einer Stadt mittlerer Größe im Herzen Deutschlands geführt habe.

Barbara Thériault, Die Bodenständigen. Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft, Leipzig 2020. Buchcover © Julien Posture

NB: In Erfurt?

BT: Ja. Bei der Studie habe ich eine kleine Entdeckung gemacht: Menschen beschreiben sich selbst, ohne groß darüber nachzudenken, als „bodenständig“. Es ist ihr Lieblingswort! Es ist ein Alltagsbegriff, ein „Wort von der Straße“, aber es erwies sich auch als eine Art Chiffre. Das Wort verweist auf etwas Eigenartiges, auf eine bestimmte Lebensführung.

NB: Eben eine bodenständige, im Sinne von moderierte, gemäßigte?

BT: Ja. Ich dachte, dass ein Rückblick auf Max Webers Konzept nützlich sein könnte, um das Phänomen – also die Bodenständigkeit – näher zu charakterisieren. Und somit dank Max Weber einen Blick auf das gegenwärtige Erfurt, und damit vielleicht sogar auf das gegenwärtige Deutschland, werfen zu können.

NB: Welche Rolle spielt Weber für einen solchen Ansatz?

BT: Wenn wir auf Webers Konzeption von Lebensführung zurückkommen, können wir einen Idealtypus der bodenständigen Lebensführung skizzieren und dann auf Webers mögliche Kritik eingehen.

NB: Was versteht Weber unter Lebensführung?

BT: Das Konzept der Lebensführung wird bei Weber oft in enger Verbindung mit seiner Theorie vom Geist des Kapitalismus und einer religiösen Arbeitsethik gesehen. In der Protestantischen Ethik beginnt Weber seine Untersuchung – zumindest in der Darstellung – gewissermaßen mit der Empirie: Er schaut sich das Handeln eines signifikanten Fragments der Mitte der Gesellschaft an, das sich durch eine rationale Lebensführung kennzeichnet. Weber interessiert die Herkunft, der Sinn dieses bestimmten Handelns. Durch den Blick auf Indizien – Lebensmaxime, die das alltägliche Handeln prägen –, ermittelt er dann die Motive, die der Lebensführung zugrunde liegen.
Die Maxime als empirische Basis zu wählen, war eine gute Idee, eine methodische Innovation, vielleicht vergleichbar mit Norbert Elias‘ Etikettenbüchern oder Siegfried Kracauers populären Filmen.

NB: In Deinem Buch dienen u. a. Inschriften auf Tattoos als empirische Basis.

BT: Ja. Als ich nach einem Äquivalent zu Franklins „Advice to a Young Tradesman“ suchte, bin ich auf Tattoos gekommen. Sie drücken aus, was man ist und wonach man strebt, wie präskriptive Lebensmaxime, gewissermaßen „worldly wisdom“4 .
Aber zurück zu Weber. Die Motive, die er anhand der Maxime rekonstruiert, stehen im Zusammenhang mit einem Arbeitsethos. Die Lebensführung ist also eine bestimmte Art des Handelns, die im Zusammenhang mit einer Ordnung und ihrem Sinn steht. So hatte ich es auf jeden Fall bisher gesehen...
Christian Marty, der Autor, den ich eingangs zitiert habe, weist zu Recht auf andere Schriften hin, auf Webers kulturkritische, publizistische Schriften, in denen er sich mit seiner Zeit auseinandersetzte. Marty weist auch auf Marianne Webers Biographie und auf methodologische Texte hin, die er neu liest. Dort wird die Lebensführung mit einem freiheitlichen Lebensideal und einem anspruchsvollen Persönlichkeitsideal in Zusammenhang gebracht.
Das von Weber postulierte Persönlichkeitsideal beruht auf einer Zeitdiagnose und dem Gefühl eines Sinnverlusts, das Weber mit vielen seiner Zeitgenossen um 1900 teilte – und auch noch mit der nachfolgenden Generation. Der Verlust von ethisch-moralischen Gewissheiten wurde von vielen Zeitgenossen als dramatisch erlebt; für uns heute wahrscheinlich kaum vorstellbar.

NB: Was ist Webers Antwort auf diesen Verlust?

BT: Sie lautet: Sich eigens einen letzten Wert – in seiner pathetischen Sprache: einen Gott oder Dämon – zu suchen und ihm mit Hingabe und Leidenschaft zu dienen, ihn bewusst und rational zu verwirklichen.
Gerade wo Weber als ein Verfechter der freiheitlichen Lebensführung auftritt, legt er ein Persönlichkeitsideal an den Tag, das nicht „zimperlich“ ist: Es sucht nicht das persönliche Wohlbefinden; es ist „machohaft“, heroisch, radikal und alltagsfern. Auch was seine eigene Lebensführung angeht, verficht Weber – in Sachen Politik, aber auch in Liebe und Alkohol – eine solche radikale Linie.
Obwohl die Diagnose des gesellschaftlichen Sinn- und Wertverlusts in soziologischen Theorien, aber auch in Medien- und Alltagsdiskursen immer noch präsent ist, passt sie – in der Praxis – nicht mehr in unsere Zeit. Ich würde behaupten, dass Max Weber vielen – mir inklusive – oft unzeitgemäß erscheint.

NB: Zeitgemäß oder unzeitgemäß?

BT: Unzeitgemäß. Sicher gibt es manche – die man gerade unter Kennern Webers finden kann –, die in Webers Entschlossenheit und Haltung große Anziehungskraft sehen – in Sachen Politik, Einzigartigkeit des Einzelnen, ja sogar Partnerschaften. Siegfried Kracauer würde sie „Desperados“ nennen5 . Das Pathos Webers steht einer gemäßigten Lebensführung negativ gegenüber. Womit das Augenmerk schon auf mein eigenes Thema gerichtet ist: die „bodenständige“ Lebensführung.

"Die Bodenständigkeit ist eine Haltung des Maßhaltens: nicht zu viel, nicht zu wenig." © Julien Posture

NB: Was heißt „eine bodenständige Lebensführung“?

BT: Um sie zu skizzieren, kann Max Weber als eine Art Kontrapunkt dienen. Wo Weber leidenschaftlich und radikal ist – auch in seiner Wortwahl –, können die „Bodenständigen“ als gemäßigt bezeichnet werden.

NB: Kannst Du das näher spezifizieren?

BT: Diese Lebensführung knüpft an ein Lebensideal an, das mit einem Ethos des Maßhaltens einhergeht, welches das Handeln und den Geschmack prägt. Nicht zu viel (sich extravagant kleiden, üppig essen und ausschweifend leben), nicht zu wenig (ungepflegt sein, sich gehen lassen). Diese Lebensführung verhält sich positiv zur Mitte der Gesellschaft und negativ Eliten gegenüber. Das bedeutet nicht, dass es keine Eliten gibt oder geben sollte. Nein. Sie sollten aber bestimmte Verhaltensweisen aufweisen. Man findet es z.B. gut, dass Bodo Ramelow, der thüringische Ministerpräsident, mittags einen Imbiss in der Fleischerei in der Nähe der Staatskanzlei isst.
Im Umgang mit Erfolg (Ruhm, Geld, Bildung) sollte man mit der Basis verbunden bleiben: In einer Formel zusammengefasst, hieße das berühmt sein, aber nicht arrogant. Reich sein, aber nicht verschwenderisch. Gebildet sein, aber nicht eingebildet. Ein Beispiel? Im Fußball verkörpert Bastian Schweinsteiger dieses Ideal: Er ist zwar reich und bekannt, aber doch einer – und hier kann Cristiano Ronaldo als Gegenbeispiel angeführt werden –, der „am Boden“ geblieben ist.

NB: Die Bodenständigkeit steht also nicht nur in Verbindung zu einem Ort, sondern tatsächlich auch sprichwörtlich mit dem Boden. Und sie ist nicht per se politisch links oder rechts einzuordnen. Das Wort deutet also nicht – oder nicht nur – auf die Heimat, sondern auf „Maß und Mitte“ hin? Deshalb sprichst Du von der nüchternen Mitte der Gesellschaft?

BT: Ja, genau. Und auch in Bezug auf Alkohol ist das Leitwort temperantia, Mäßigung. Interessant ist auch, dass das Wort statistisch seit dem Ende der 1980er Jahren öfter – seit 2016 sogar exponentiell – gebraucht wird, auch in dem von mir hervorgehobenen Sinne. Zukünftige Auflagen des Dudens werden vielleicht diesen Trend dokumentieren.

NB: Könnte man sagen, dass die Bodenständigkeit Erfurt und andere Teile Deutschlands mehr prägt als die sogenannten „Singularitäten“, wie sie zuletzt von dem Soziologen Andreas Reckwitz als signifikant für spätmoderne Gesellschaften hervorgehoben wurden?

Erfurt, Blick vom Petersberg auf den Weihnachtsmarkt am Domplatz.

BT: Auch wenn die Tendenz zu Singularität in Erfurt ebenfalls zu beobachten ist, scheint mir dennoch die Bodenständigkeit charakteristischer für das Lebensführungsideal.

NB: Was würde Weber, der Kulturkritiker, zu den Menschen, die sich als bodenständig bezeichnen, sagen?

BT: Weber könnte die bodenständige Lebensführung sicher kritisieren. Sie steht irgendwie für ziemlich alles, wofür er nicht stand. Sogar methodisch entlarvt er die Mitte, den Kompromiss, als vermeintlich „bessere Lösung“ oder „moralisch überlegenere Lösung“.
Das Lob der Mitte kann als durchschnittlich, ja konformistisch gelten. Manche Erfurter möchten es deshalb nicht, wenn ich das Wort hervorhebe und leicht ironisiere.
Christian Marty sagt, dass Weber ein Vorbild in Sachen Nonkonformismus ist. Weber würde aber möglicherweise eine Umkehrung bemerken, eine Aufwertung der Mitte und des Alltäglichen. Die bodenständige Lebensführung ist nicht mittelmäßig, eher – zumindest in den Augen meiner Interviewpartner – das „rechte Maß“. In ihr findet sich der Ausdruck eines spezifischen (Gesamtgesellschafts- statt eines Klassen-) Bewusstseins und eines Stolzes. Trotz Ambivalenz hat die Bodenständigkeit generell eine positive, ethische Färbung.
Wenn man Instagram als Quelle für Lebensmaxime ansehen kann – und wieso auch nicht? –, findet man z. B. unter dem Hashtag #bodenständig Sätze wie:
„Richtig gut, heißt nicht nur Mittelmaß, es heißt eigentlich perfekt in der Sprache des Bodenständigen, der durch sein Urteil nicht zu viel versprechen will.“
Als ich – auf der Suche nach Sinn – meine Interviewpartner fragte, welche Inschriften sie sich als – reale oder imaginäre – Tattoos stechen lassen würden, wussten sie schnell eine Antwort. Und sie hatten ein Wort für eine bestimmte Haltung, die ihrem Leben einen Sinn verlieh.

NB: Gelassenheit?

Tattoos sind auch eine Möglichkeit, die eigene Haltung zu zeigen. Die Interviewparter/innen von Barbara Thériault würden sich am ehesten "Gelassenheit" als Tattoo stechen lassen. © Basile Morin

BT: Ja, fast alle sagten „Gelassenheit”6 .
Die Inspiration für die Tattoos von heute bestand aus einer Mischung aus Ratgeberliteratur, asiatischer Philosophie und Popkultur (Songs, Bestseller und TV-Serien). Diese vielfältigen Quellen sind als psychologische oder ethische Institutionen für Sanktionen nicht so wirksam wie die protestantische Arbeitsethik. Auch wenn es keine einzelne zentrale Quelle gibt – wie eine protestantische Arbeitsethik –, so vertrauen „die Bodenständigen“ auf einen common sense. Meine Interviewpartner forderten stets Haltung ein: bei Wahlplakaten von Parteien aller Couleurs bis hin zu Jugendweihe-Zeremonien. Manchmal spürten sie dabei ein Unbehagen, als ob es der vorhandenen Sprache an sinnlichem Glanz fehlte oder sie zu alltäglich erschien. Das heißt aber nicht, dass es der gesamten Gesellschaft an etwas mangelte. Nein, „die Bodenständigen“ teilten ihre Haltung: Sie standen zur Mitte.
Es geht also um eine Aufwertung der Mitte und des Alltäglichen, die Weber zwar fremd ist, dessen Instrumentarium es uns aber erlaubt, sie zu erkennen und näher zu durchdringen. Anders als Weber sah Kracauer übrigens im Alltag und in der materiellen Realität eine mögliche Errettung für die sich fragmentierende Gesellschaft. Aber das ist Stoff für ein anderes Gespräch.

NB: Vielen Dank!

  1. Erika Alleweldt, Anja Röcke und Jochen Steinbicker (Hrsg.), Lebensführung heute: Klasse, Bildung, Individualität, Weinheim 2016.
  2. Christian Marty, Max Weber. Ein Denker der Freiheit, Weinheim 2019.
  3. Barbara Thériault, Die Bodenständigen. Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft, Leipzig 2020.
  4. Barbara Thériault, "Max Weber, Life Conduct and Contemporary Existential Cultures", in: Edith Hanke, Lawrence Scaff und Sam Whimster (Hrsg.), The Oxford Handbook of Max Weber, Oxford 2020.
  5. Siegfried Kracauer, "Die Wartenden", in: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. (2014 (1963/1931)), 106–119.
  6. Gelassenheit war für sie ein Gegengewicht zu ihren zahlreichen sozialen Verpflichtungen und Erwartungen.

Dieser Blogeintrag geht aus einem Gespräch hervor, das Barbara Thériault und Noa Beschorner für die CAS-Vortragsreihe „Zur Aktualität von Max Weber“ im Juli 2020 geführt haben. Die Veranstaltung ist auch als Video verfügbar, unter: Zur Aktualität von Max Weber in der Soziologie und der Politikwissenschaft.

Noa Beschorner studiert Film Production in Montréal. Barbara und Noa sind Mutter und Tochter.

Barbara Thériault, Gesellschaftsanalyse mit Weber. Über Bodenständigkeit und Nonkonformismus, CAS LMU Blog, 22 June 2021, https://doi.org/10.5282/cas-blog/27
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