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Dis:konnektivität und Krise

Roland Wenzlhuemer, 12 November 2020

Eine einzige Krise

Die noch kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts ist – weit über die so genannte westliche Welt hinaus – geprägt von einer Abfolge wirtschaftlich und gesellschaftlich in höchstem Maße transformativer Krisen (Macho 2020). Im Jahr 2008 stürzten weite Teile der Welt für viele Jahre in eine tiefe Finanzkrise, die erhebliche soziale und ökonomische Spuren hinterließ. Mit der langsamen Erholung der Weltwirtschaft rückte der lange bekannte Wandel des Erdklimas zunehmend in das öffentliche Bewusstsein. Die sozioökonomischen Auswirkungen des Klimawandels wurden immer manifester und ließen sich nur noch schwerlich ignorieren. Langsam begann sich ein ökologisches Krisenbewusstsein zu entwickeln, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt fast vollständig von Heftigkeit und Dynamik der Coronakrise überlagert wird. Diese sich teilweise überlappenden und ineinandergreifenden Krisen unterscheiden sich in wichtigen Punkten: Sie haben jeweils eigene Zeitlichkeiten und entwickeln sich in verschiedenen Geschwindigkeiten; sie haben andere, oft wechselnde regionale Schwerpunkte; sie sind im menschlichen Alltag unterschiedlich stark sichtbar und präsent; sie bedienen jeweils andere individuelle und kollektive Ängste; und nicht zuletzt eröffnen sie ganz eigene ethische Dilemmata und schlagen sich gesellschaftlich auf verschiedene Arten und Weisen nieder.

Lehman Brothers Rockefeller Centre. Die Pleite der Bank stand mit ihren globalen Auswirkungen symbolhaft für die Finanzkrise von 2008. © David Shankbonee CC BY-SA 3.0.

Zumindest eins aber haben all diese Krisen gemein: sie sind eng verbunden mit und tief eingebettet in Globalisierungsprozesse – in gegenwärtige ebenso wie in historische. Die so genannte Subprime-Krise in den USA breitete sich ab 2008 entlang unzähliger wechselseitiger Verpflichtungen im Kapitalmarkt weltweit aus. Eine regional geplatzte Immobilienblase führte in kurzer Zeit zu einer Krise des internationalen Bankensystems. Die menschengemachte Veränderung des Klimas wiederum ist verflochten mit der Geschichte der Industrialisierung und der Konsumgesellschaft. Sie wird befeuert durch das rasche Wachstum überregionaler Mobilität und globaler Arbeitsteilung. Der Klimawandel stoppt nicht an nationalen oder anderen politischen Grenzlinien. Er ist eines der wenigen im engeren Wortsinn tatsächlich globalen Phänomene. Ähnliches gilt für SARS-CoV-2, das sich seit Anfang des Jahres 2020 entlang globaler Mobilitätsnetzwerke rasend schnell über praktisch den gesamten Erdball ausbreitet. Anfang November 2020 waren weltweit bereits mehr als 47 Millionen Infektionen mit dem Virus offiziell erfasst worden – Tendenz immer noch stark steigend. Gemeinsam ist all diesen Krisen also, dass sie vor dem Hintergrund dichter globaler Verflechtung stattfinden; dass sie sich nur auf der Grundlage der weltweiten Austauschprozesse zumindest der letzten 200 Jahre so entfalten konnten, wie sie es getan haben.

Pause, Stop, Rewind?

In den Reaktionen auf die Ausbreitung des Corona-Virus wird nun aber seit vielen Monaten auch eine andere Seite von Globalisierungsprozessen jenseits von Verflechtung und Austausch überdeutlich. Seit Beginn der Pandemie versuchen Regierungen auf dem ganzen Globus mit einem Bündel verschiedenster Maßnahmen, möglichst viele Verbindungswege, über die sich das Virus ausbreiten kann, zu kappen. Grenzen wurden geschlossen, Reisewarnungen ausgesprochen, internationale Verkehrsverbindungen stillgelegt oder zumindest ausgedünnt. Die Menschen sollen möglichst von zu Hause arbeiten. Verdachtsfälle werden in Quarantäne geschickt. Social distancing ist nach wie vor the order of the day. In der öffentlichen Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Maßnahmen taucht neben epidemiologischer Überzeugungsarbeit oder verschwörungsgläubigen Delegitimierungsversuchen immer wieder auch ein anderes, gefühligeres Motiv auf: die Hoffnung, einst Verlorenes in den Corona-Beschränkungen wiederzufinden. Der Glaube an die Krise als Chance: als Chance zur Entschleunigung, als Chance zur Deglobalisierung.

Vor allem zu Beginn der Gegenmaßnahmen Mitte März geisterte die Idee der Entschleunigung durch den Corona-Diskurs. Die österreichische Regierung etwa verwendete den Begriff in praktisch jeder ihrer frühen Pressekonferenzen zum Lockdown exzessiv. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa, der sich seit langer Zeit und auf durchaus anregende Weise mit Fragen der gesellschaftlichen Beschleunigung auseinandersetzt, sah bald ebenfalls ein großes Entschleunigungsexperiment im Gange. Ein Experiment, das ganz nach dem Geschmack von Volks-Rock’n’Roller Andreas Gabalier zu sein schien, der in seinem Corona-Erbauungs-Song Neuer Wind ebenfalls frühzeitig attestierte, dass „die Welt, die man kennt, sich von heute auf morgen langsamer dreht“. Zugegebenermaßen gab es in den frühen Tagen der Kontaktbeschränkungen tatsächlich ein paar schwache Momente, in denen selbst so mancher Berufsskeptiker kurz versucht war, diesem neo-neoromantischen Narrativ auf den Leim zu gehen. Hatten sich doch schließlich innerhalb von wenigen Tagen praktisch jeder berufliche Termin, jede Dienstreise ebenso wie jegliche private Planung für die nächsten Monate in Luft aufgelöst und ein unbekanntes Vakuum im Kalender geschaffen. Aber das war natürlich bestenfalls eine kurzlebige Illusion. Natura abhorret vacuum. Und das gilt scheinbar auch für die Krise. Die Leere war schnell befüllt. Es waren weiterhin unzählige Verpflichtungen zu erfüllen, Abgabefristen einzuhalten, Rechnungen zu bezahlen, Verbindlichkeiten zu begleichen. Allerdings unter erschwerten Bedingungen – zum Beispiel mit den Kindern im Heimunterricht, auf der Basis eingeschränkter persönlicher Mobilität, mit wackliger Internetverbindung und nicht zuletzt mit einem Kopf voller Fragen und Sorgen. Von der romantisierten Entschleunigung, vom Zur-Ruhe-Kommen und der Konzentration auf die wirklich wichtigen Dinge konnte selbst in privilegierten Arbeits- und Lebenssituationen nicht die Rede sein. Nun stelle man sich vor, wie sich das für die Menschen im Gesundheitswesen oder der relevanten Infrastruktur, für Alleinerziehende, prekär Beschäftigte, Menschen in Kurzarbeit oder Angehörige von gesundheitlichen Risikogruppen anfühlt. Der Begriff Entschleunigung drängt sich hier für die wenigsten auf. Das Konzept der Entschleunigung greift also nicht, um die aktuelle Situation zu erfassen und bei ihrer Bewältigung zu helfen. Es liefert bestenfalls eine plakative Momentaufnahme, dient womöglich als Beruhigungsmantra, entbehrt aber jedweder analytischen Qualität.

Ähnlich verhält es sich mit der so genannten Deglobalisierung, also mit der Entflechtung weltweiter Verbindungen und Abhängigkeiten. Der Begriff wird schon seit längerem vor allem im Zusammenhang mit den Renationalisierungs- und Abschottungstendenzen der letzten Jahre und Jahrzehnte diskutiert. Er verweist auf die teilweise oder vollständige Rückabwicklung von globalen Verflechtungsprozessen, die einige zeitgenössische Beobachter seit America First, Brexit und Schutzzollpolitik allerorts zu sehen glauben. Auch die Idee der Deglobalisierung erlebt nun in Corona-Zeiten eine weitere Hochphase inklusive interessantem reframing. Erschienen Abschottung und Regionalismus vielen eben noch als reaktionär, vielleicht sogar als egoistisch und xenophob, so präsentiert sich die Deglobalisierung nun plötzlich so manchem als Chance – ganz speziell in der politischen Mitte, außerhalb des extrem linken oder rechten Spektrums, wo solche Vorstellungen ja ohnehin eine lange Tradition haben. Während der frühen Kontaktbeschränkungen verzeichneten regionale Hofläden ein außergewöhnliches Umsatzplus. Die Aufrufe diverser europäischer Regierungen, dieses Jahr doch über einen Urlaub im eigenen Land nachzudenken, treffen auf überraschend viel Gegenliebe. Eine Umfrage des Nachrichtenmagazins Der Spiegel von Mitte Mai soll sogar in ganz konkreten Zahlen zeigen, dass sich die Deutschen zunehmend von der Idee der Globalisierung abwenden und in der Deglobalisierung eine Chance für die Zukunft sehen. Ähnlich wie die Hoffnung auf Entschleunigung beruht aber auch dieser Glaube an die Deglobalisierung auf einer verkürzten Vor- und Darstellung von globaler Verflechtung als weitgehend linearer Entwicklung, aus der man sich ausklinken kann, die man – zumindest vorübergehend – stoppen kann oder die sich sogar reversieren lässt.

Dis:konnektivität in der Globalisierungsgeschichte

In der Geschichtswissenschaft wurde Ähnliches bereits mit Blick auf die Zwischenkriegszeit diskutiert. Manche Historikerinnen und Historiker sehen dort aufgrund eines im Vergleich zum späten 19. Jahrhundert geringeren globalen Waren- und Kapitalverkehrs eine Phase der Deglobalisierung. Dies ist aber nur ein kleiner, stark dekontextualisierter Ausschnitt des Gesamtbildes. Allein der Umstand, dass sich die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und 1930er-Jahre ausgehend von den Vereinigten Staaten binnen kürzester Zeit um die ganze Welt verbreitete, verweist eindrücklich auf den hohen Grad globaler Vernetzung auch in dieser Epoche. Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard hat jüngst in Forschung & Lehre ebenfalls am Beispiel der Zwischenkriegszeit genau auf diese Parallelität von globaler Verflechtung und Entflechtung hingewiesen. „Historisch standen also strukturelle Globalisierung und sektorale De-Globalisierung, zumal nach Krisenerfahrungen, häufig nebeneinander und ergänzten sich“, schreibt Leonhard (Leonhard 2020, S. 413). Das gilt genauso für die gegenwärtige Situation und für globale Verflechtungsprozesse ganz allgemein. Es handelt sich bei der Globalisierung nicht um einen arretier- oder umkehrbaren Großprozess, sondern um viele kleine, miteinander in Beziehung stehende Komplementärprozesse.

Am Ende seines Artikels verweist Leonhard auf die „Spannung zwischen Globalität und De-Globalisierung“ (Leonhard 2020, S. 413) und spricht damit einen der wichtigsten Punkte hinsichtlich eines adäquaten Verständnisses von Globalisierung an. Es ist genau diese Spannung zwischen Prozessen der Verflechtung und der Entflechtung, die viele Menschen in der aktuellen Krise, anstatt der idealisierten Entschleunigung oder der erhofften Deglobalisierung, zu spüren bekommen. Es ist die Spannung zwischen einer Welt, die sich trotz Andreas Gabaliers romantischer Aneignung munter weiterdreht, und mit schwindenden Möglichkeiten einhergeht, den veränderten Anforderungen weiter gerecht zu werden. Man könnte auch sagen, die aktuelle Krise legt ganz deutlich die Gegenläufigkeiten globalisierter Gesellschaften frei. Gängige Erklärungsversuche schildern die Zeit vor Corona meist als eine Zeit globaler Verdichtung, die sich nun ins Gegenteil gekehrt hat, zur Entflechtung geworden ist und uns dadurch die Verletzlichkeit globalisierter Gesellschaften vor Augen führt. Tatsächlich aber waren Globalisierungsprozesse schon immer gleichzeitig geprägt von Verflechtungs- und Entflechtungsphänomenen, von globaler Verbindung und Unterbrechung. Beides gehört auch im vielzitierten „Normalbetrieb“ stets zur Globalisierung. Mehr noch, Globalisierungsprozesse werden ganz wesentlich durch das jeweilige Zusammenspiel von konnektiven und diskonnektiven Elementen charakterisiert. Dieses Zusammenspiel versuche ich analytisch mit dem Begriff der Dis:konnektivität zu fassen.

Wie das Beispiel der Zwischenkriegszeit bereits zeigt, hilft ein Blick in die lange Geschichte von globalen Verflechtungsprozessen, um dieses Zusammenspiel klarer vor Augen zu bekommen. Instruktive Fallstudien finden sich zuhauf über praktisch alle Epochen und Weltregionen hinweg. Ich erlaube mir an dieser Stelle zur Illustration auf zwei kleine Beispiele aus meiner eigenen Forschung zurückzugreifen. Um zu zeigen, wie allgegenwärtig und prägend dis:konnektive Spannungen in der Globalisierungsgeschichte sind, habe ich Episoden aus ganz unterschiedlichen Forschungskontexten ausgewählt.

Vor etlichen Jahren habe ich mich mit der sozialen und ökonomischen Entwicklung der britischen Kronkolonie Ceylon (heute Sri Lanka) in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Die Insel ist heute berühmt für ihren Tee, der auf großen Plantagen im Hochland angebaut wird. Bis in die 1880er-Jahre wurde auf diesem Land aber vor allem Kaffee gepflanzt, für dessen Ernte jedes Jahr große Zahlen von Saisonarbeitern aus dem Süden Indiens nach Ceylon kamen. Aus ihrer armen und dicht besiedelten Heimat brachten die Plantagenarbeiter regelmäßig die Cholera mit auf die Insel, auf der diese Krankheit nicht endemisch war. Die Kolonialregierung betrachtete diesen Umstand mit großer Sorge und versuchte mit Quarantänemaßnahmen für Einreisende die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, die wiederum von vielen Saisonarbeitern – unter anderem auf Betreiben ihrer Vorarbeiter – mit kreativen Mitteln unterlaufen wurden. Daher verlegte sich die Kolonialregierung bald auf eine Art epidemiologischen Risikomanagements. Es gab zwei Hauptmigrationsrouten zwischen Südindien und dem ceylonesischen Hochland.

Hauptsächliche Migrationsrouten zwischen Südindien und Ceylon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Quelle: Wenzlhuemer 2008, S. 253.

Die Arbeiter, die im Hafen von Colombo ankamen, versuchte man so gut es ging in Quarantäne zu halten, dann aber in eigens bereitgestellten Zügen so schnell wie möglich von der dicht besiedelten Hauptstadt wegzubekommen. Eine große Zahl von Saisonarbeitern allerdings kam im Norden der Insel an und machte sich dann zu Fuß entlang der so genannten North Road auf einen mehrere hundert Kilometer langen Weg ins Hochland. Die Kolonialregierung sah die North Road als eine Art natürlicher Quarantäne, als eine Möglichkeit, Colombo und die wirtschaftlich wichtigen Plantagendistrikte im Hochland vor der Cholera zu schützen. Die North Road verband und trennte damit zugleich. Cholerakranke schafften den langen und beschwerlichen Weg auf die Plantagen normalerweise nicht. Sie mussten den Weg entweder unterbrechen und waren dann auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung angewiesen. Oder sie ließen in schlimmen Fällen gar ihr Leben. Regelmäßige Ausbrüche der Cholera im dicht besiedelten Norden der Insel, der allerdings weit weg lag von den Plantagen im Hochland, nahm die Kolonialregierung billigend in Kauf. Nachdem diese Einwanderungsroute im Jahr 1899 schließlich geschlossen wurde, hielt der damalige britische Gouverneur in der Rückschau explizit fest: „[I]t will be seen that certain districts in the Northern Province were sacrificed […] to secure the safety of the planting districts. […] Upon the inhabitants of the districts through which the coolies passed, the results, […] from the constant passage of infected gangs through uninfected villages, were very disastrous.“ (Wesumperuma 1986) Wie ja auch in der aktuellen Coronakrise zu sehen ist, sind Quarantänemaßnahmen bzw. der Versuch, so genannte semi-permeable Grenzsysteme zu errichten, fast schon klassische dis:konnektive Phänomene, in denen sich die Spannung zwischen Bewegung und Stillstand, Verbindung und Verbindungsunterbrechung deutlich zeigt. Im Beispiel der North Road wurde nun sogar das verbindende infrastrukturelle Elemente selbst, nämlich die Straße und damit auch die Bewegung, gleichzeitig zum Separator. Die indischen Arbeitskräfte ebenso wie die lokale Bevölkerung entlang der Route wiederum waren einer spannungsgeladenen Situation zwischen Konnektivität und Diskonnektivität ausgesetzt, die in diesem Fall sogar ganz manifeste gesundheitliche Konsequenzen haben konnte.

Einige Jahre später habe ich begonnen, mich für die Entwicklung des weltweiten Telegrafennetzwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu interessieren. Vielen Zeitgenossen galt diese „Verkabelung“ des Globus als Höhepunkt und Symbol des Zusammenwachsens der Welt, als eine Entwicklung, die – so hieß es häufig – Raum und Zeit als separierende Faktoren überwinden würde. Historikerinnen und Historiker – unter ihnen auch ich – haben dieses Narrativ weitergesponnen und nur bedingt hinterfragt. Dabei ist auch die Geschichte der Telegrafie und damit der Vernetzung der Welt voll von Verzögerungen, Unterbrechungen, Umwegen. Entgegen des in der Telegrafiegeschichte üblichen Verbindungsnarrativs handelt es sich um eine zutiefst dis:konnektive Geschichte. Die Verkabelung der Welt war von Beginn an geprägt von Verbindungsunterbrechungen. Überlandleitungen wurden von Kupferdieben abgebaut. Schiffsanker oder auch der Schiffsbohrwurm beschädigten Unterwasserkabel. Wichtige transkontinentale Verbindungen waren selbst ganz am Ende des 19. Jahrhunderts noch oft wochenlang unterbrochen. Ein Umstand, der zwar für alle Beteiligten lästig war, aber in dieser Zeit schlichtweg zur telegrafischen Kommunikation gehört. Ebenso wie die Tatsache, dass die Übermittlungskapazität des Telegrafen beschränkt war. Deshalb sollten Telegramme kurz und auf den Punkt formuliert sein. Lange Zeit konnten nur einfache Textnachrichten übermittelt werden. Das führte unter anderem dazu, dass sich kurze, vereinfachende Nachrichten schnell quer über den Globus schicken ließen, während komplexere Sachverhalte und Hintergrundberichte, handschriftliche Nachrichten oder gar Bilder sich bedeutend langsamer – nämlich mit der Post – bewegten. Eine verzerrte, spannungsgeladene Informationschronologie entfaltete sich, die in der zeitgenössischen internationalen Berichterstattung deutlich zu erkennen ist. Erfuhr die Welt im späten 19. Jahrhundert in Windeseile über den Ausgang einer Schlacht, den Ausbruch eines Vulkans oder den Verfall der Weltmarktpreise für Kaffee, so verbreiteten sich die jeweiligen Hintergrundberichte und Analysen sehr viel langsamer. Das gebar Unsicherheiten ebenso wie Möglichkeiten für die Handelnden. Und schließlich ist da noch die Geschichte mit den Telegrafisten auf Fanning Island, einem abgelegenen Atoll in der Südsee, das seit 1902 eine britische Telegrafenrelaisstation beherbergte. Durch diese Station liefen Tag für Tag die neuesten Nachrichten aus der ganzen Welt. Die Telegrafisten vor Ort gehörten mit Sicherheit zu den best- und schnellstinformierten Menschen auf der Erde. Ihre materielle Versorgung war aber durchweg prekär. Arzt gab es keinen. Ein Versorgungsschiff legte bestenfalls einmal im Monat an. Es brachte Lebensmittel und Post, denn mit ihren Angehörigen in aller Welt durften die Telegrafisten nur brieflich kommunizieren. Aus den wenigen erhaltenen Briefen wissen wir, dass die Telegrafisten auf Fanning Island – wie viele ihrer Kollegen in ähnlichen Situationen – ihre Situation in keiner Weise als Entschleunigung empfunden haben, sondern vor allem einer riesigen Spannung zwischen Anbindung und Isolation ausgesetzt waren. Einer dis:konnektiven Spannung.

Erste Seite eines Briefes von Fanning Island, März 1914, aus: Porthcurno Telegraph Museum, DOC//5/107/1-3, Letters from the Fanning Islands.

Es ist kompliziert

Aus diesen Beispielen wird hoffentlich deutlich, dass Globalisierung niemals lineare und totale Vernetzung bedeutet, sondern in unterschiedlichen Dosierungen auch immer Verbindungsunterbrechungen, Verzögerungen und fehlende Verbindungen beinhaltet. Die daraus resultierende Spannung macht das Wesen eines jeden Globalisierungsprozesses aus.

In der Coronakrise mit ihrem hohen Maß an für uns alle sichtbarer Entflechtung zeigt sich das nun besonders deutlich. Wir finden eine solche Dis:konnektivität aber genauso in den anderen eingangs erwähnten Beispielen. Die weltweite Finanzkrise des Jahres 2008 ging zunächst aus einer Spekulationsblase im US-amerikanischen Immobilienmarkt hervor. Sie hat demnach schon ihren Ursprung in der Spannung zwischen etwas Unbeweglichem, lokal Gebundenem (eben Immobilem), und dessen Bewertung in hochdynamischen und zu tiefst verflochtenen Finanzmärkten. Noch deutlicher wird diese dis:konnektive Spannung aber in der Betrachtung des eigentlichen Auslösers der Krise, die sich zwar entlang dichter globaler Kapitalflüsse ausbreitete, im Kern aber das Ergebnis des Zusammenbruchs von Vertrauen – also einer ganz grundlegenden Form von Verbindung – in diesem hochgradig vernetzten System war. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Klimakrise, die schon in ihrer schleichenden, fast unwirklichen Entfaltung ein dis:konnektives Element in sich trägt. Die bisherigen Versuche, dem Klimawandel entgegenzuwirken, sind vor allem durch den Unwillen bzw. die Unfähigkeit zur internationalen Zusammenarbeit gekennzeichnet. Während die Erderwärmung ein weltumspannendes Phänomen ist, haben sich im Krisenmanagement stets partikulare Interessen und Strukturen gegenüber einer globalen Zusammenarbeit durchgesetzt.

Ein erster Schritt zu einem besseren Krisenmanagement liegt in all diesen Fällen in einem adäquateren Verständnis dessen, was wir vor uns haben. Einfache, plakative Vorstellungen von Globalisierungsprozessen, die sich nun umkehren, von einer übermäßig beschleunigten Welt, die von der Natur nun endlich einmal gezwungen wird, innezuhalten, helfen uns hier nicht weiter. Die Globalisierung wird nach dieser Krise nicht zum Stillstand gekommen sein. Sie wird sich auch nicht nur „auf das Wesentliche“ beschränken. Sie wird sich aber wohl signifikant verändern und neue Phänomene hervorbringen. Tatsächlich ist es daher – und das ist einer der in der Öffentlichkeit unbeliebtesten Sätze von Wissenschaftler*innen – viel komplizierter als gedacht. Dieser Komplexität gilt es sich zu stellen. Die Idee der Dis:konnektivität kann uns dabei helfen.

Literatur

Jörn Leonhard, Keine Dichotomie. Zum Verhältnis von Nationalstaat und Globalisierung, in: Forschung & Lehre 27 (2020).

Thomas Macho, Krisenzeiten: Zur Inflation eines Begriffs, in: Geschichte der Gegenwart, 31. Mai 2020, https://geschichtedergegenwart.ch/krisenzeiten-zur-inflation-eines-begriffs/.

Wenzlhuemer, Roland: From Coffee to Tea Cultivation in Ceylon, 1880–1900. An Economic and Social History, Leiden 2008.

Dharmapriya Wesumperuma, Indian Immigrant Plantation Workers in Sri Lanka: A Historical Perspective, 1880–1910, Nugegoda 1986, S. 47.

Roland Wenzlhuemer, Dis:konnektivität und Krise, CAS LMU Blog, 12 November 2020, https://doi.org/10.5282/cas-blog/2
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