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Horst Antes’ Kopffüßler

Christof Rapp, 12 November 2020

In Zusammenarbeit mit dem Franz Marc Museum in Kochel stellt das Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München fast vierzig Werke des deutschen Künstlers Horst Antes (geb. 1936) aus. Alle ausgestellten Werke zeigen jene berühmten Kopffüßler, mit denen Antes in den Sechzigerjahren international bekannt wurde und die für fast zwei Jahrzehnte sein Schaffen prägten.

Horst Antes: Figur auf rotem Grund
Horst Antes: Figur auf rotem Grund (1964), Franz Marc Museum, Sammlung Stiftung Etta und Otto Stangl. © Horst Antes: VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

Es wurde darauf hingewiesen (Kraft 1999, 5), dass der etablierte Ausdruck „Kopffüßler“ nur dann korrekt sei, wenn man ein bestimmtes süddeutsches Idiom in Anwendung bringe, demzufolge „Füße“ die Beine als ganze meinen, denn nicht nur bei Antes und in der Kunstgeschichte, sondern auch bei Kinderzeichnungen seien es in der Regel Beine, nicht Füße, die direkt mit dem Kopf verbunden sind, weswegen der typische Kopffüßler im Hochdeutschen eigentlich „Kopfbeinler“ heißen müsste (eine Ausnahme hiervon dürfte der verschleierte Frauenkopf im Vordergrund von Hieronymus Boschs Eremiten-Triptychon sein, der tatsächlich direkt auf seinen Füßen zu gehen scheint).

Hieronymus Bosch (ca. 1450 bis 1516): Ausschnitt aus dem Eremiten-Triptychon.

In diesem großzügigen Sinn des Wortes zeigen die im CAS ausgestellten Werke also durchweg „Kopffüßler“, wobei jedoch nicht die Rumpf- oder Halslosigkeit der Figuren das entscheidende Merkmal ist, sondern die dominante Präsenz des Kopfes, der zusammen mit den kräftigen Beinen eine menschliche Figur in aufrechter Haltung darstellt (selbst bei der liegenden Figur wird der Kopf in aufrechter Haltung gezeigt). Die Beine ruhen auf überproportional großen Füßen, auf die man von halb oben zu blicken meint. Die Köpfe werden nun nicht frontal, sondern im Profil gezeigt, während das „zyklopisch“ ovale Auge (oder die übereinander angeordneten Augen), typischerweise in der Mitte der Schädelgestalt angesiedelt, den Betrachter frontal anblickt. Das wache Auge, so der Kunstkritiker Donald Kusprit (Kusprit 2006, 39), zeige an, dass die Figur – ungeachtet ihres primitiven Körpers – über „menschliches Bewusstsein“ verfüge: „Das Auge schließt sich nie, es ist allzeit wachsam.“ Im Unterschied zum Auge ist die Nase streng im Profil zu sehen, wobei – anatomisch gesprochen – keine Nasenwurzel zu erkennen ist, sondern der Nasenrücken vollständig in die Kontur des Schädelprofils integriert ist, wenngleich die Simultanperspektive bisweilen mehrere Nasenansichten zulässt.

Diese Grundformen bleiben bei allen Modifikationen und Weiterentwicklungen erhalten – auch dann noch, wenn sich in einer späteren Schaffensphase Antes‘ Figuren zu strecken beginnen und einen Leib erhalten. Auch bei den ausgestellten, relativ frühen Werken der Sechzigerjahre können zu den genannten Grundformen andere Gliedmaßen hinzutreten: Arme, wenn sie benötigt werden, nehmen ihren Ausgang oft irgendwo am Oberschenkel oder da, wo man zwischen Kopf und Beinen die Schultern vermuten würde. Geschlechtsmerkmale werden, wenn sie denn eine Rolle spielen, an einem rudimentär angedeuteten Leib angebracht. Die Simultanperspektive, mit der der Betrachter auf Auge und Schädelprofil, Beine und Füße blickt, erlaubt auch eine immanente Spannung in einzelnen Figuren, zum Beispiel wenn der Kopf des sich verabschiedenden Odysseus noch zu Penelope blickt, die Füße aber bereits aufbrechen. Die Figuren sind oft einzeln zu sehen, treten aber auch in Paaren oder kleinen Gruppen auf. Manche Figuren erhalten zusätzlich Attribute, z.B. eine Trompete oder einen Brief, wobei die Attribute wie zusätzliche Körperteile mit der Figur verbunden sein können. Die kräftigen, manchmal leuchtenden, Farben verleihen den Figuren Lebendigkeit, einen je eigenen Charakter und bisweilen eine besondere Emotionalität; außerdem wird die Farbigkeit dazu genutzt, die einzelnen Figuren eines Paares oder einer Gruppe zueinander in Beziehung zu setzen. Zur Vielfalt der Kopffüßler-Darstellungen trägt entscheidend auch die Gestaltung des Hintergrunds bei. Oft heben sich die Kopffüßler von ein- oder mehrfarbigen Flächen ab; andere Bilder zeigen einen collagenartig gestalteten Hintergrund oder gar eine Landschaft, was die Kopffüßler – auch durch Anspielungen und Zitate – zum Beispiel in die griechische Antike oder in ein toskanisch anmutendes Umfeld versetzen kann.

Die Ausstellung „Horst Antes: Kopffüßler“ ist eine Kooperation des Franz Marc Museums in Kochel mit dem Center for Advanced Studies LMU. © Siegfried Wameser.

Die Eindringlichkeit von Antes‘ Kopffüßlern, das, was sie so ansprechend macht, scheint vor allem damit zu tun zu haben, dass sie den Blick direkt auf das der menschlichen Erscheinung Wesentliche richten: der Kopf, das wache, Bewusstsein und Aufmerksamkeit signalisierende Auge, die Orthostase. „Als einziges Lebewesen“, heißt es bei Xenophon (Memorabilien I, 4, 11), „wurde der Mensch dazu geschaffen, aufrecht zu stehen. Die aufrechte Haltung wiederum bewirkt, dass er mehr von dem sieht, was vor ihm liegt, dass er besser betrachten kann, was über ihm ist, und auf diese Weise weniger leicht Schaden nimmt.“ Auch Antes‘ aufrecht stehende Köpfe und Kopffüßler strahlen eine solche Souveränität aus, gerade weil sie auf die wesentlichen Gestaltmerkmale reduziert sind. Eine solche Reduktion kennen wir aus frühkindlichen Zeichnungen. Die Kopffüßler eines durchschnittlich entwickelten dreijährigen Kindes sollten Augen, Nase, Mund, Beine und einen runden Kopf enthalten, der zugleich als Leib dient, aus dem die Beine hervorgehen. Der sogenannte Mann-Zeichen-Test nach dem Pädagogen Hermann Ziler betrachtet die Anzahl weiterer Details (Haare, Ohren, Leib, usw.) geradezu als Indikator für den ontogenetischen Entwicklungsstand eines Kindes (Fliegner 2007). Auch kennt man aus Kinderzeichnungen das Phänomen, dass persönliche, manchmal schmerzlich-traumatische Erfahrungen eines Kindes, das bisherige Formenrepertoire um markante Details erweitern können: eine Ohrenentzündung kann etwa dazu führen, dass übergroße oder zusätzliche Ohren am Kopf angebracht werden, eine Knieverletzung dazu, dass an den strichartigen Beinen kreisrunde Knie markiert werden (Fliegner 2007, 110 u. 113). Ähnlich markant treten auch an Antes‘ Kopffüßlern Merkmale hervor, welche die Figuren über die allgemein menschliche Form hinaus erhalten; manchmal sind dies die Geschlechtsmerkmale, manchmal die Stigmata und Verletzungen, die einige Kopffüßler aus den Siebzigerjahren aufweisen (am bekanntesten unter diesen Figuren ist vielleicht Antes‘ Figur Hiob von 1970).

Eine ähnliche Reduktion auf die wesentlichen Formen des menschlichen Erscheinungsbildes, auf das, was den Menschen gerade eben als Menschen erkennbar macht, findet sich auch in der sogenannten „primitiven“ Kunst vieler frühen Kulturen in aller Welt. Und wo eine solche Reduktion gegeben ist, finden sich häufig auch Kopffüßler in den verschiedensten Ausprägungen und an unterschiedlichsten Orten: auf Felszeichnungen, als Idole oder in Form von Gefäßen – von Süd- und Mittelamerika über Asien, Syrien, Griechenland bis Afrika. Der Mediziner Helmut Kraft, der sich der Symbolik der Kopffüßler mit einem besonderen Interesse am diagnostischen Wert von Kopffüßler-Zeichnungen in der Psychopathologie nähert, hat die Verbreitung von Kopffüßlern ausführlich dokumentiert und eine entsprechende wissenschaftliche Sammlung zusammengestellt (Kraft 1982 u. Kraft 1999); ihm zufolge stammen Kopffüßler aus „in uns angelegten Bildmuster(n)“ und verweisen uns so auf die „Geburt des Menschenbildes“ (Kraft 1999, 4). Horst Antes selbst hat sich auch als bedeutender Sammler, unter anderem von südamerikanischen Kachina-Figuren („Katsinam“), von westafrikanische Aklama-Figuren und androiden Roboter-Spielzeugen einen Namen gemacht (Antes/ Haberland 1980); hierbei spielen Kopffüßler keine Rolle, wohl aber sein Interesse an den Formen menschlicher Figuren vor allem in außereuropäischen Kulturen.

Die künstliche Reduktion auf die wesentlichen Formelemente geht immer auch mit einem ganz spezifischen Verfremdungseffekt einher: Einerseits erkennen wir ein menschliches Auge, Mund, Nase, den aufrechten Gang und schließen, dass es sich um eine menschliche Figur handeln muss, andererseits sind diese Gestaltelemente eben auf eine ungewöhnliche Weise zusammengesetzt, vor allem ohne Leib und ohne Hals. Genau diese Spannung gibt dem Betrachter zu denken, eben weil die bekannten Schemata auf eine unerwartete und manchmal geradezu dysfunktionale Weise revisionär arrangiert werden. Joachim Sartorius spricht von einer „extremen Formulierung oder Deformierung des menschlichen Körpers“ (Sartorius 2014, 11), Donald Kuspit findet sogar, der Kopffüßler sei „eine Art evolutionärer Rückschritt oder eine Umkehrung, eine Laune der Natur, eine Missgeburt“, habe eine „pathologische Erscheinung“ (Kuspit 2006, 39). Im Grunde ist das eine Technik, der sich auch schon die Mythologie bedient, wenn sie bekannte Wesen in elementare Formen zerlegt und diese Formen dann neu zusammensetzt: die Chimäre entsteht aus Elementen des Löwen, der Ziege und der Schlange, der Minotaurus aus Elementen von Mensch und Stier. Der griechische Philosoph Empedokles postuliert eine alternative Weltentstehung, im Zuge derer Kinnbacken ohne Hälse, nackte Arme ohne Schultern, und Augen allein ohne Stirnen umherirren (Empedokles: DK 31B57-58) und sich dann zu unzweckmäßigen, auf Dauer nicht lebensfähigen Wesen, „Kuhsprösslinge mit Menschenvorderteil“ und ähnlichem, zusammenfinden (Empedokles: DK 31B61). In der antiken griechisch-römischen Mirabilien-Literatur („Paradoxographie“) wird von in Indien ansässigen Menschenstämmen berichtet, bei denen sich die elementaren Formen der menschlichen Erscheinung auf ganz ungewöhnliche Weise variiert finden: Die Skiapoden oder Schattenfüßler verfügen über einen einzigen Fuß, der so groß ist, dass er, der Sonne entgegengestreckt, Schatten für die ganze Kreatur spendet. Andere haben Ohren wie „Worfelkörbe“, das heißt, ihre Ohren sind so lang, dass sie sich damit vollständig bekleiden oder zudecken können. Schließlich haben die Akephaliden, die Kopflosen, zwar keinen Kopf, ihr Gesicht samt Mund, Auge, Nase ist jedoch in die Vorderseite der Brust integriert. Sie sind daher den Kopffüßlern insofern verwandt, als in beiden Fällen die Untergliederung von Kopf, Hals, Leib unterbleibt, so dass Kopf und Leib in eins fallen und dieselben Funktionen übernehmen (was bei der frühkindlichen Kopffüßler-Zeichnung stets, bei Antes‘ Kopffüßlern nur ausnahmsweise oder nur insofern der Fall zu sein scheint, als der Kopf die Hüftfunktion für die Beine übernimmt). In der Naturalis Historia von Plinius dem Älteren werden solche Wesen erwähnt und finden so Eingang in die mittelalterlichen Weltgeschichten, wie zum Beispiel in die Schedelsche Weltchronik, und bleiben auf diese Weise, obschon nur eine Kuriosität und Marginalie in der antiken Literatur, im abendländischen Bewusstsein präsent. Philosophen, wie Augustinus von Hippo, machen sich Gedanken, ob solche Wesen, wenn sie denn existieren, überhaupt Nachfahren von Adam sein können (Augustinus: De Civitate Dei, XVI, Kapitel 8). Das legt nahe, dass die Beschäftigung mit solchen exotischen Wesen, über den Schauder und die Sensation hinaus, auch deswegen so anziehend wirkt, weil sie letztlich zur Reflexion darüber einlädt, wie sehr das menschliche Erscheinungsbild variiert und immer noch als ein menschliches erkannt werden kann.

Zu dieser Art von Reflexion laden auch die Kopffüßler von Horst Antes ein: „das ewig Menschliche im Zeitalter des Individuums und seiner unüberschaubaren Erscheinungsformen“ (Klingsöhr-Leroy, 2010, 9). Die menschliche Erscheinung ist in den Figuren einerseits entfremdet und tritt andererseits gerade durch diese Entfremdung in ihren wesentlichen Zügen zugespitzt hervor. Die Kopffüßler knüpfen an vielfältige, teils europäische, teils außereuropäische, zum Teil sehr alte, Traditionen an und übersetzen deren Fragestellungen in die Kunstsprache des 20. Jahrhunderts. Sie erinnern uns an den kindlichen Blick mit dessen Fokussierung auf einfache, elementare und markante Gestaltmerkmale, doch werden die einfachen Schemata so subtil und vielfältig arrangiert, dass uns die Kopffüßler als Individuen mit unterschiedlicher Ausstrahlung und eigenem Charakter entgegentreten.

Literatur

Horst Antes/Wolfgang Haberland (Hgg.), Kachina-Figuren der Pueblo-Indianer Nordamerikas aus der Studiensammlung Horst Antes, Karlsruhe: Badisches Landesmuseum 1980.

Jörg Fliegner, Auswertungsaktualisierung des Mann-Zeichen-Tests (MZT/det), Dissertation: Universität Bielefeld 2007.

Hartmut Kraft, Die Kopffüßler. Eine transkulturelle Studie zur Psychologie und Psychopathologe der bildnerischen Gestaltung, Stuttgart 1982.

Hartmut Kraft, Die Geburt des Menschenbildes. Die Kopffüßler, Köln 1999.

Cathrin Klingsöhr-Leroy, „Garten der Lüste – Lust des Gartens“, in dieselbe (Hg.), Antes und Ranru und Boro, Kochel am See: Franz Marc Museum 2010.

Donald Kusprit, Horst Antes, Offenbach am Main 2006.

Joachim Sartorius, „Zum malerischen Werk von Horst Antes“, in: Joachim Sartorius (Hg.): Horst Antes. Malerei 1958–2010, Martin-Gropius-Bau Berlin, Köln 2014.

Christof Rapp, Horst Antes’ Kopffüßler, CAS LMU Blog, 12 November 2020, https://doi.org/10.5282/cas-blog/3
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