Literatur als Schule der Empathie am Beispiel von Shakespeares Othello
Aleida Assmann, 14 May 2024
Empathie ist ein Thema, das lange Zeit aus der Literaturwissenschaft verbannt war.1 Die Studierenden in Literaturseminaren wurden darauf trainiert, ihre – ich möchte sagen: naturwüchsige – Empathie mit fiktionalen Protagonisten abzustellen, um ihre Aufmerksamkeit ganz und gar auf die künstlerischen Verfahren und Stilmittel des jeweiligen Textes zu richten. Diejenigen, die sich sentimental mit den literarischen Figuren identifizierten, praktizierten eine falsche Form von Lektüre. Sie hatten nicht begriffen, dass sich die professionelle Leserin von der normalen Leserin grundsätzlich unterscheidet. Zu den Seminaren waren natürlich nur professionelle Leser zugelassen. Dort war die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die textuelle und ästhetische Dimension der Werke gerichtet, die sorgfältig auf Ironie, Komplexität, Subversion oder die Dekonstruktion verbaler Strategien abgeklopft wurde.
Das hat sich inzwischen geändert. Es waren allerdings nicht Literaturwissenschaftler, die diese Wende ausgelöst haben. Es waren Psychologen, Neurowissenschaftler, Soziologen, Philosophen und Historiker, die die Bedeutung der Emotionen wiederentdeckt haben. Und irgendwann erreichte diese Entwicklung auch die Literaturstudien. Der Umgang mit Emotionen ist inzwischen als ein integraler Bestandteil der Werke und ihrer Rezeption anerkannt und es stellt sich die Frage, wie man dieser Dimension auch methodisch gerecht werden kann. Hier bietet sich nun insbesondere ein neues Empathie-Konzept an.
Das Thema Empathie hat sich seit dem Jahr 2000 zu einem rapide wachsenden interdisziplinären Forschungsfeld von großer Ausstrahlung entwickelt. Hier tummeln sich Forscher aus den Humanwissenschaften ebenso wie empirische Naturwissenschaftler der Neurowissenschaften oder Verhaltensforschung, die gemeinsame Fragen und Zusammenhänge entdecken.2 Im Folgenden werde ich einen kurzen Überblick über diesen neuen Forschungszweig geben und dann konkrete Empathie-Probleme in Shakespeares Othello vorstellen. Ich möchte zeigen, dass es sich lohnt, die Frage nach Emotionen bei der Diskussion literarischer Texte stärker zu berücksichtigen. Diese Perspektive kann nämlich einen neuen Blick auf die Gestaltung und Kanalisierung der Gefühle ermöglichen, die ein Drama organisieren, und zwar einen Blick sowohl auf die Gefühle zwischen den Charakteren als auch auf diejenigen zwischen den Charakteren und den Zuschauern.
Empathie als ein neues Forschungsfeld
Die Soziobiologen interessieren sich für die Bedeutung und Funktion pro-sozialer Emotionen. In diesem neuen experimentellen Forschungszweig geht es weniger um die Frage, warum egoistische Menschen altruistisch handeln, als um den Nachweis, dass genetische und kulturelle Evolution zusammen eine Spezies hervorgebracht haben, in der viele Mitglieder sich ethischen Normen verschreiben und bereit sind, Fremden zu helfen. Diese Forscher betonen zudem, dass es diese Fähigkeit zur Kooperation war, die über Tausende von Generationen hinweg menschliches Überleben gesichert hat.3
Auch die Neurowissenschaftler haben die pro-sozialen Emotionen entdeckt und inzwischen als den wichtigsten Motor für kognitive und soziale Evolution identifiziert. Sie sind davon überzeugt, dass die exklusive Fähigkeit der Menschen, ihre gegenseitigen Absichten und Ziele so gut zu verstehen, es ihnen erlaubte, komplexe Tätigkeiten zu koordinieren und damit einen Sprung in der Evolution zu machen, der anderen Arten vorenthalten ist.4 Empathie wurde auf diese Weise zur Schlüsselemotion, die die kognitive Entwicklung des menschlichen Gehirns fördert und Menschen von Primaten unterscheidet.
Der Begriff Empathie geht bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, aber erst im 21. Jahrhundert begann seine erstaunliche Karriere in den Naturwissenschaften. In der neuen Definition besteht Empathie in der besonderen Fähigkeit von Menschen, gleichsam in den Köpfen von Artgenossen zu denken, ihre Reaktionen zu antizipieren und sich auf ihre Absichten und Aktivitäten einzustellen. Ohne Empathie, so der wissenschaftliche Konsens, könnten Menschen ihr Gehirnvolumen nicht vergrößern, keine gemeinsamen Projekte starten und ihr kulturelles Erbe nicht nutzen. Diese Einsichten haben neue Forschungsfelder angestoßen, die auch wichtige soziale und kulturelle Perspektiven für die Zukunft eröffnen. In seinem Bestseller über Die empathische Zivilisation zum Beispiel empfiehlt Jeremy Rifkin den Amerikanern, dass sie die egoistische Vision des „Amerikanischen Traums“ gegen ein sozialeres Selbstbild austauschen, um zu einer „empathischen Gesellschaft“ zu werden.5 Er erklärt darin das Ende der Ära eines ungezügelten kompetitiven Individualismus und präsentiert Empathie als universale neurobiologische Ressource in einer Welt, die sich auf die Herausforderungen der Globalisierung und eines gefährdeten Ökosystems einstellen muss.
Nachdem die Moderne die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eingeführt und die Figur des unbeteiligten und neutralen Beobachters erfunden hat, scheint unser Zeitalter das empathische Subjekt wiederentdeckt zu haben. Im globalen Dorf sind die Menschen zwar nicht automatisch zu Weltbürgern geworden, aber doch in neue Formen der Nachbarschaft zueinander geraten. In dieser Welt brauchen wir nicht nur passive Konsumenten, sondern, wie Amartya Sen betont, auch „empathische Akteure“.6 Frühere Gesellschaftstheorien sahen gemeinsame Interessen und Kommunikationsmittel als wichtigste Grundlagen der menschlichen Zusammenarbeit, nun brachten Autoren wie Sen Empathie als zusätzliche Voraussetzung für menschliche Beziehungen und Bindungen ins Spiel.
Während sich Evolutionstheoretiker für Empathie als Basis kognitiver Entwicklung interessieren, haben Psychologen die Bedeutung von Empathie als Voraussetzung des Aufbaus eines eigenen Selbstbildes entdeckt. Wenn Menschen einander nicht verstehen können, können sie sich auch nicht selbst verstehen.7 Die Literatur kann in diesem Zusammenhang als eine lange Schule und ein hervorragendes Labor für die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern verstanden werden. Sie testet unseren Umgang mit dem Anderen unter geschützten Bedingungen aus, fördert und erweitert ihn empathisch. Die wichtigste Ressource ist dabei die Imagination, auf der sowohl Literatur als auch Empathie aufbauen. Die Literatur ist ein ausgedehntes Archiv für die Verbindung von Wissen und Emotion, indem sie immer neue Kontexte für die Gewährung oder Verweigerung von Empathie schafft. Komplexe Erzählungen ermöglichen Identifikation und Empathie und stoßen damit das Interesse an den Lebensgeschichten Anderer an.8
Angeregt von diesen zeitgenössischen Denk-Impulsen wende ich mich nun Shakespeares Othello zu, einem Stück, das besonders reich in der Darstellung und Auslösung von Empathie ist. Wir werden uns einige Szenen und Konstellationen anschauen, an denen die komplexen Mechanismen und die subtile Ansteckung mit Empathie deutlich werden, aber wir werden auch die Voraussetzungen untersuchen, unter denen die Zirkulation warmen Mitgefühls blockiert wird und kalter Gleichgültigkeit oder einem Gefühl der Bedrohung durch den anderen weicht. Empathie mag eine allgemein menschliche Emotion sein, die bereits Kleinkinder besitzen und die auf der ganzen Welt praktiziert wird, aber sie ist keinesfalls eine verlässliche Ressource im Repertoire menschlicher Interaktionen. Shakespeares Text kann uns auch über den prekären Status der Empathie aufklären, über ihre Unzuverlässigkeit und Verweigerung in verschiedenen Formen der Indifferenz und Abwehr. Diese “forms of denial”, wie Stanley Cohen sie nennt, machen die Kehrseite der Empathie aus und gehören, wie ich näher zeigen möchte, zum selben psychischen Komplex.9
Empathie wird inzwischen als eine allgemeinmenschliche Gabe anerkannt, aber es ist noch keineswegs klar, unter welchen Bedingungen sie befördert oder eingeschränkt wird. Daraus ergeben sich konkrete Fragen an Shakespeares Stücke: Was sind die wichtigsten Auslöser für Empathie? Warum bringen die Zuschauer im einen Fall ein Übermaß an Empathie auf und stoßen im anderen Fall an eine Schranke ihres Vorstellungs- und Einfühlungsvermögens? Wie genderspezifisch ist Empathie; sind Frauen empathischer als Männer? Gibt es unterschiedliche Kulturen der Empathie? Was ist teilbar, und was nicht? Und in welcher Weise wird Empathie durch Fragen der Identität gesteuert?
Desdemonas fiktionale Empathie
Am Anfang des Dramas Othello steht das Rätsel der Liebe zwischen dem Titelhelden und Desdemona.10 Ihr Vater kann sich nicht vorstellen, wie es zur Bindung seiner Tochter an den schwarzen General gekommen ist. Da er die Möglichkeit einer Liebe von vornherein ausschließt, vermutet er die Wirkung eines faulen Voodoo-Zaubers. Gegen diesen Vorwurf des Gebrauchs von Magie muss sich Othello öffentlich rechtfertigen, und er tut dies mit seiner längsten Rede, in der er die ersten Begegnungen zwischen sich und Desdemona ausführlich beschreibt. Aus seinen Worten erfahren wir, dass es nicht Liebe war, die Desdemona zu dem deutlich älteren und dunkelhäutigen Othello hinzog, sondern eine besondere Form der Empathie.
In der westlichen Tradition gibt es einen bevorzugten Weg, auf dem das Feuer der Liebe entfacht wird, und der geht durchs Auge.11 In einem kurzen Gedicht hat W.B. Yeats das so beschrieben:
A Drinking Song
Wine comes in at the mouth
And love comes in at the eye;
That’s all we shall know for truth
Before we grow old and die.
I lift the glass to my mouth,
I look at you, and I sigh.12
(William B. Yeats, 1910)
Yeats ironisiert die romantische Tradition, indem er zwei sehr unterschiedliche Quellen der Intoxikation nebeneinanderstellt: die Liebe und den Alkohol. Desdemonas Liebe unterscheidet sich erheblich von diesem Ideal der Liebe auf den ersten Blick. Ihre Liebe kam nicht durch das Auge, sondern durch das Ohr. In diesem Fall können wir sogar annehmen, dass der visuelle Sinneskanal für die Liebeserzeugung eher blockiert war. Ihr Vater spricht die rassistischen Vorurteile der venezianischen Gesellschaft und des zeitgenössischen Publikums aus, wenn er sagt: How could she “fall in love with what she feared to look on” (…) and make a choice “against all rules of nature”? (I, 3, 100)13 Shakespeare erfand für sie einen anderen Zugang zur Liebe. Desdemona blickte Othello nicht an, sie hörte ihm zu: „Gleich kam sie wieder, und mit durst’gem Ohr Verschlang sie meine Rede“. (“She’d come again, and with a greedy ear Devour up my discourse”; III, 3, 149). Othello betont hier, dass es allein seine Worte waren, die Desdemona in ihren Bann schlugen. Sie richtete, wie sie selbst bestätigt, ihre Aufmerksamkeit nicht auf das Äußere, sondern auf das Innere der Person.
Mir war Othellos Antlitz sein Gemüt,
Und seinem Ruhm und seinem Heldensinn
hab ich die Seel und irdisch Glück geweiht.
I saw Othello’s visage in his mind
And to his honors and his valiant parts
Did I my soul and fortunes consecrate. (I, 3, 252 ff.)
Unter der Hand ersetzte sie dabei zugleich auch die wirkliche Gestalt und Erscheinung ihres Gegenübers durch ein Bild ihrer Imagination. Desdemona verhält sich in Shakespeares Stück nämlich wie eine Leserin sentimentaler Romane, die sich in den Helden verlieben und ihre eigene Welt gegen die Romanwelt eintauschen. Nur liest Desdemona nicht, sondern hört ihren Abenteuerroman höchstpersönlich aus dem Munde des Protagonisten. Heldentaten, dramatische Spannung, Leidensgeschichten und unglaubliche Ereignisse ziehen sie in ihren Bann. Othellos Lebensgeschichten entsprechen eins zu eins der Gattung der ‚Romanzen‘, einer populären Erzählliteratur der frühen Neuzeit, die in Bestsellern des frühen Buchdruckzeitalters zirkulierten, aber von den damaligen Anwälten der Hochkultur als billiger Unterhaltungsstoff geächtet wurden.14 Othello hat die Wirkung dieser Erzählungen auf Desdemona sehr genau beschrieben:
Als ich nun geendigt,
Gab sie zum Lohn mir eine Welt von Seufzern:
Sie schwur – in Wahrheit, seltsam! Wunderseltsam!
Und rührend wars! Unendlich rührend wars! –
Sie wünschte, dass sie’s nicht gehört; doch wünschte sie,
Der Himmel habe ihr einen solchen Mann
Geschaffen
My story being done,
She gave me for my pains a world of sighs;
She swore i’ faith ‘twas strange, ‘twas passing strange;
‘Twas pitiful, ‘twas wondrous pitiful;
She wish’d she had not heard it, yet she wish’d
That heaven had made her such a man ... (I, 3, 158 ff.)
Nach Aristoteles wird die Bereitschaft zur Empathie durch Ähnlichkeit mit dem Objekt der Wahrnehmung gestützt. Wenn der Andere mir ähnlich ist, so das Kalkül, dann könnte seine Geschichte auch die meine sein.15 Desdemonas Empathie beruht jedoch auf der äußersten Fremdheit ihres Gegenübers. Sie reagiert auf dessen exotische Fremdheit aber nicht wie andere Personen im Drama mit rassistischen Stereotypen, sondern mit rückhaltloser Faszination. Desdemona lauscht mit einem „gierigen Ohr“ und zeigt dabei (wie die von Lesesucht ergriffenen Frauen) die typischen Symptome eines unstillbaren Begehrens:
sie dankte mir und bat mich,
Wenn je ein Freund von mir sie lieben sollte,
Ich mög ihn die Geschicht’ erzählen lehren,
Das würde sie gewinnen.
she thank’d me;
And bade me, if I had a friend that lov’d her,
I should but teach him how to tell my story,
And that would woo her. (I, 3, 162 ff.)
Beim Zuhören verlagert sich Desdemonas Aufmerksamkeit immer mehr vom Gegenstand ihrer Liebe auf die Erzählung als das Medium ihrer Lust. Sie verfällt förmlich der Erzählung, von der sie nicht genug bekommen kann und die sie wie eine Schallplatte immer und immer wieder hören möchte. Während sie Othello gegenübersitzt, sehnt sie sich also bereits nach einem Mittler, der ihr diesen Hörgenuss wiederholt verschaffen kann. Dabei hat sie sich ganz dem Helden der Geschichte ausgeliefert und ihr Gegenüber als eine reale Person buchstäblich aus dem Auge verloren.
Mit anderen Worten: Desdemonas Liebe unterscheidet sich erheblich vom traditionellen Modell romantischer Liebe. Hier gibt es keinen Blitz durchs Einfallstor der Augen, der die Liebe entfacht und damit auch keine unmittelbare Gegenseitigkeit, sondern eine indirekte und umwegige Form der Liebe, die durch Othellos Erzählung und Desdemonas Empathie für diese Geschichte entsteht.16 Wie Don Quixote und Emma Bovary taucht Desdemona in eine fremde fiktionale Welt ein, zu der sie auch gehören möchte. Sie wünscht sich, „der Himmel hätte ihr einen solchen Mann geschaffen“. Durch die Erzählung erlebt sie die wunderbare Verwandlung von einer „Motte des Friedens“ (moth of peace) in eine „schöne Kriegerin“ (fair warrior) an der Seite Othellos. Kein Wunder, dass ihr Vater sie nicht mehr wiedererkennen kann. Gestützt durch eine melodramatische Einbildungskraft kann die Empathie große Sprünge über Landesgrenzen und Kulturschranken hinweg machen, aber einem Realitätstest ist sie kaum gewachsen. Dasselbe gilt für Othello: Auch er hat sich nicht Hals über Kopf in Desdemona verliebt. Im Gegenteil hat er zunächst gezögert und keine Bindung eingehen wollen, weil er seine nomadisch freie Lebensweise nicht aufgeben wollte (my unhoused free condition; I, 2, 24). Er kannte seine Schwachpunkte und Grenzen und war sich darüber im Klaren, dass er für das häusliche Glück weder Talent noch Erfahrung mitbrachte.17 So kompliziert und umwegig findet dieses besondere Paar zueinander: Desdemona verfällt Othello durch ihre Empathie für den Protagonisten seiner Erzählung und Othello verfällt Desdemona durch seine Dankbarkeit für die Empathie dieser Zuhörerin:
Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand;
Ich liebte sie um ihres Mitleids willen.
Das ist der ganze Zauber, den ich brauchte.
She lov’d me for the dangers I had pass’d,
And I lov’d her that she did pity them.
This is the only witchcraft I have used. (I, 3, 167)
Iago – Empathie ohne Mitgefühl
In Shakespeares Stück gibt es einen Charakter, bei dem es schwerfällt, ihn mit dem Begriff Empathie in Verbindung zu bringen. Das ist Iago, der sich von allen anderen Rollen in diesem Stück schon dadurch grundsätzlich unterscheidet, dass er einen direkten Kontakt mit den Zuschauern aufbaut und diese in seine finsteren Pläne einweiht. So offen er dem Publikum über die Rampe hinweg diese Pläne mitteilt, so sorgfältig hält er sie vor den anderen Personen auf der Bühne verborgen. Da er von verzehrendem Neid angetrieben ist und für seine egoistischen Ziele über Leichen geht, ist er ganz offensichtlich kein Kandidat für Empathie. Während Shakespeares Bühnenkunst immer wieder die einfachen Muster der Empathie unterläuft, weil er die meisten seiner negativen Charaktere mit Ambivalenzen ausgestattet hat, bietet Iago keinerlei Ansatzpunkte für Mitgefühl. Das liegt daran, dass diese Figur nichts Menschliches an sich hat. Seine kalte und abweisende Persönlichkeit hat etwas mit der Genealogie seiner Rolle zu tun. Er stammt von der älteren Vice-Figur ab, die in mittelalterlich religiösen Dramen das Laster verkörperte und mit dem Teufel im Bunde stand. Iago steht in dieser moralischen Tradition der Verkörperung des schlechthin Bösen, wobei Shakespeare allerdings diese allegorische Figur mit psychologischen Zügen ausgestattet hat, ja noch mehr: sie in diesem Fall zu einem Meister der Psychologie gemacht hat. Auf dieser Ebene kommt auch die Empathie wieder ins Spiel.
Ich möchte dazu einige Gedanken aus einem Buch von Martha Nussbaum aufgreifen. In Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions hat sie das Gebiet der Empathie kartographiert, indem sie den Spuren antiker Philosophen folgt und diese in zeitgenössische Diskurse einbringt. In einem Kapitel über „Empathie und Mitleid“ zieht sie eine wichtige Grenze zwischen beiden Begriffen, die oft miteinander gleichgesetzt werden. Mitleid, so schreibt sie, „setzt voraus, dass sein Gegenstand sich in einem schlechten Zustand befindet“.18 In Shakespeares Stück ist Iago derjenige, der zielstrebig dafür sorgt, dass die anderen Figuren in einen schlechten Zustand geraten. Darin zeigt sich sein teuflisches Wesen. Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum Iago keine Publikums-Empathie auf sich zieht: Da er sich in seinen Monologen direkt an die Zuschauer wendet und diese in seine Strategien genauestens einweiht, ist er der einzige transparente Charakter im Stück. Das macht es unmöglich, Mitgefühl mit dieser Figur zu empfinden, denn Empathie bedarf immer eines gewissen Spielraums der Imagination. Die Zuschauer können kein Mitleid mit Iago empfinden, aber das schließt nicht aus, dass dieser sehr viel Empathie für die anderen Personen des Stücks aufbringt. Wir können Iago mit Empathie in Verbindung bringen, wenn wir Heinz Kohuts Definition von Empathie als „stellvertretende Innensicht“ (vicarious introspection) zugrunde legen und darunter einen imaginativen Akt der Einsicht in die Gefühle eines anderen Menschen verstehen.19 Auf diese Weise können wir die Fähigkeit der Empathie von einem moralischen Urteil und der Sorge um den Zustand eines Mitmenschen ablösen. Nussbaums Beispiel ist der Folterer, der sich „des Leidens seines Opfers voll bewusst ist und diese Vorstellung ohne jeglichen Anflug von Mitleid genießt“ (329). Sie fasst zusammen: „Feinde sind oft darauf spezialisiert, die Ziele ihrer Gegner zu verstehen, um sie für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren.“
Mit diesen Vorbemerkungen kommen wir der Figur Iago schon sehr nahe. Er ist ein Genie der stellvertretenden Innensicht und damit das genaue Gegenteil von Othello, der keinerlei psychologische Imagination für das Innenleben der anderen Personen mitbringt. Weil er um diese Schwäche weiß, sehnt er sich umso mehr nach Transparenz und Eindeutigkeit: „Laß mich Dein Inneres sehen!“ (“Let me see your mind!”) fordert er von Iago, der ihn mit indirekten Andeutungen auf die Psycho-Folter spannt. Die Intransparenz des Anderen ist ein Dauerthema in Shakespeares Stücken. „Ich wünschte ich könnte Dein Herz sehen“ (“I would I knew thy heart”) sagt die Königin Anne zu Richard dem III. (I, 2, 211), einer weiteren Vice-Figur in Shakespeares Dramen. Othello ist deshalb dringend auf jemanden angewiesen, der ihn sicher durch das Dunkel der Anspielungen und verborgenen Absichten hindurchführt. Er entscheidet sich für Iago, von dem er annimmt, dass dieser wie ein ägyptischer Zauberer die besondere Fähigkeit habe, „die Gedanken der Menschen zu lesen“ (“read the thoughts of people”; III, 4, 67f.). Im Gedankenlesen ist Iago tatsächlich der absolute Experte, auch wenn er mit seinem Bild von Desdemona völlig falsch liegt. Er sieht sie in der misogynen Tradition patriarchalischen Denkens als eine Frau, die wie alle ihres Geschlechts unfähig ist zur Treue und jedem neuen sexuellen Reiz zum Opfer fallen muss. Iago kann sich zwar noch ganz gut vorstellen, dass Othello Desdemonas Herz gewinnen konnte, „weil er prahlte und ihr unerhörte Lügenmärchen auftischte“. Wird sie ihn aber „immer für sein Schwatzen lieben?“ Das hält Iago für unmöglich, denn: „Ihr Auge verlangt nach Nahrung, und welches Wohlgefallen kann ihr’s gewähren, den Teufel anzusehen?“ (“Her eye must be fed, and what delight shall she have to look at the devil?” II, 1, 225) In Othello dagegen kann sich Iago sehr gut hineinversetzen, ganz im Gegenteil zu Desdemona, die mit einem selbst gemachten, hoch idealisierten Bild ihres Mannes lebt. Iago ist ein psychologischer Experte mit einer besonderen Intuition für verletzliche Menschen. Wie der Teufel kennt und nutzt er die Ängste, Obsessionen und Schwachpunkte seiner Mitmenschen. All ihre Unsicherheiten bringt er an die Oberfläche. Othello zum Beispiel ist äußerst unsicher im Umgang mit Frauen und seiner eigenen physischen Erscheinung:
Vielleicht wohl, weil ich schwarz bin,
Und mir des leichten Umgangs Gabe fehlt,
Der Stutzer ziert, auch weil sich meine Jahre
Schon abwärts senken
Haply, for I am black,
And have not those soft parts of conversation
That chamberers have, or for I am declin’d
Into the vale of years (III, 3, 267 ff.)
Vor allem aber hat Iago den Stolz als zentralen Charakterzug des Generals erkannt und, damit verbunden, seine Sorge um den Fetisch seiner Reputation als Ehemann, der keinen Schatten dulden kann, der auf diese Beziehung fällt. Iago ist so gesehen ein Genie der Empathie, wenn auch einer dunklen und negativen Variante von Empathie. Seine Empathie ist nicht der Nährboden für pro-soziales, sondern für anti-soziales Verhalten; er pervertiert diese Gabe und nutzt sie zu einer gezielten Zerstörung von Othellos Person.
Othello – Oszillieren zwischen schwarz und weiß
Vom Standpunkt der Empathie aus gesehen ist Othello sicher die beeindruckendste, komplexeste und rätselhafteste Figur des Dramas. Von Anfang an sind die Zuschauer mit widersprüchlichen Perspektiven auf diesen Charakter konfrontiert. Sie lernen ihn zunächst vom Hörensagen in den rassistischen Stereotypen eines abstoßenden und geilen Tiers kennen, bevor sie in einem zweiten Schritt selbst Bekanntschaft mit dem selbstbewusst auftretenden General machen, auf den die Stadt Venedig in der Stunde der militärischen Bedrohung durch die Türken ihre ganze Hoffnung setzt.
Die zentralen Empathieprobleme des Stücks entzünden sich am berühmten Taschentuch. An diesem Bühnenrequisit wird nämlich das Empathie-Verhältnis zu den Zuschauern neu austariert. Das kleine Tüchlein hat ein schweres dramatisches Gewicht; es dient als Verbindungsglied zwischen verschiedenen Figuren und als Beweismittel (ocular proof) für Iagos Inszenierung auf der Bühne. Ursprünglich eine Gabe von Othello an Desdemona, fällt es aus Desdemonas Hand, die damit Othellos Kopfschmerzen lindern wollte. Es wird von Emilia aufgehoben, die es an ihren Mann Iago weitergibt, der es wiederum an Cassio weitergibt, der es an die Prostituierte Bianca weitergibt. Das Zeichen des Liebesbundes wird von einem Kontext in den anderen übertragen und auf diese Weise in den Augen von Othello auf schockierende Weise profaniert. Gleichzeitig wird das Taschentuch zu einem ‚gegenständlichen Korrelat‘ für das sich wandelnde Verhältnis zwischen den Ehepartnern. Im ersten Akt wurde der Verdacht der Zuschauer erfolgreich zerstreut, Othello hätte Desdemona mit archaischen Voodoo-Praktiken in seinen Bann gebracht. Es zeigte sich dabei aber, dass es nichts anderes als die Magie der Imagination, genährt von Fiktionen und Romanzen, war, die ihre Liebe entzündet hatte. Im dritten Akt verändert sich dieses Bild dramatisch. Plötzlich taucht dieser Gegenstand auf, der ein ganz neues Licht auf die Herkunftsgeschichte Othellos wirft. Die Szene, in der Othello Desdemona über Geschichte und Bedeutung des Taschentuchs belehrt, führt auf der Bühne zu einem ‚clash of cultures‘. Gleichzeitig mit dem Publikum erfährt die überraschte, verwirrte und bedrohte Desdemona zum ersten Mal den Hintergrund der sakrosankten Bedeutung dieses Gegenstands als Unterpfand ihrer Liebe. Dabei tut sich ein Abgrund auf zwischen den Liebespraktiken der weißen venezianischen und der schwarzen afrikanischen Welt. Deren Fremdheit kann nun nicht mehr mit einem Sprung empathischer Imagination überbrückt werden. Denn es geht nicht mehr um die exotische Attraktion des Fremden, sondern um eine tödliche Bedrohung. Während Othello mit der folgenden Rede Desdemona in völlige Verwirrung stößt, verwandeln sich die Gefühle der Zuschauer gegenüber Othello von warmer Empathie in kalte Befremdung.
OTHELLO:
dieses Tuch
Gab meiner Mutter ein Zigeunerweib:
’ne Zaubrin war’s, die in den Herzen las.
So lange sie’s bewahrte, sprach das Weib,
Würd es ihr Reiz verleihen,
und meinen Vater
An ihre Liebe fesseln; doch verlöre
Oder verschenkte sie’s, satt würde dann
Sein Blick sie scheun, sein lüstern Auge spähn
Nach neuem Reiz: sie, sterbend, gab es mir
Und hieß mir’s, wenn mein Schicksal mich vermählte,
der Gattin geben. Dies geschah: nun hüt es
Mit zarter Liebe, gleich dem Augenstern.
Verlörst du’s oder gäbst es fort, es wäre
Ein Unheil ohne Maß.
DESDEMONA:
Wie, ist es möglich?
OTHELLO:
Jawohl; in dem Gewebe steckt Magie;
Eine Sibylle, die den Sonnenlauf
Zweihundertmal die Bahn vollenden sah,
Hat im prophet’schen Wahnsinn es gewebt.
Geweihte Würmer spannen ihre Seide,
Sie färbt’s in Mumiensaft, den sie mit Kunst
Aus Jungfraunherzen zog.
OTHELLO:
That handkerchief
Did an Egyptian to my mother give,
She was a charmer, and could almost read
The thoughts of people; she told her, while she kept it,
'Twould make her amiable, and subdue my father
Entirely to her love: but if she lost it,
Or made gift of it, my father's eye
Should hold her loathly, and his spirits should hunt
After new fancies: she dying, gave it me,
And bid me, when my fate would have me wive,
To give it her; I did so, and take heed on't,
Make it a darling, like your precious eye,
To lose, or give't away, were such perdition
As nothing else could match.
DESDEMONA
Is't possible?
OTHELLO
'Tis true, there's magic in the web of it;
A sibyl, that had number'd in the world
The sun to make two hundred compasses,
In her prophetic fury sew'd the work;
The worms were hallow'd that did breed the silk,
And it was dyed in mummy, which the skilful
Conserve of maidens' hearts.
(III, 4, 54 ff.)
Nach seiner ersten Rede hatte sich Othello noch von jeglichem Verdacht freisprechen können. „Dein Schwiegersohn ist hell und gar nicht schwarz“, hatte der Herzog dem Vater von Desdemona zugerufen (“Your son-in-law is far more fair than black”; I, 3, 290). Im Laufe der Taschentuch-Rede schwingt das Pendel jedoch wieder in die Gegenrichtung zurück. Mit jedem Vers wird Othello vor unseren Augen schwärzer und schwärzer; er verwandelt sich von einem anziehenden Fremden in ein bedrohliches Wesen. Während er mit aller Kraft versucht, seinen guten Namen zu schützen – denn „ein gehörnter Ehemann ist ein Monstrum und ein Tier“ (“a horned man’s a monster, and a beast”; IV, 1, 63), verwandelt er sich paradoxerweise in ein ebensolches.
In der ersten Szene des Stücks lernten die Zuschauer Othello durch die Augen Iagos und eines Komplizen kennen, die ihn mit rassistischen Stereotypen einführten. Dieses erste Bild der Hauptperson des Stücks als abstoßender Fremder, der die sakrosankten Gesetze der weißen Gesellschaft bedroht, wird am Ende des ersten Akts korrigiert, indem er als allgemein respektiertes und bewundertes Mitglied der Gesellschaft bestätigt wird. Diese plötzliche Umkehrung des Othello-Bildes stellt ein erstes Empathie-Problem im Stück dar, besonders für den Vater von Desdemona, der die Liebe seiner Tochter als schreckliche Mesalliance sieht. Die Ungleichheit des Paars wird durch die rassistische Darstellung Othellos als Tier und Monstrum unterstrichen. Othello wird der menschliche Status verweigert und damit das Anrecht auf eine Grundmenge minimaler Ähnlichkeit mit seiner Mitwelt entzogen. Tatsächlich wird im gesamten Stück die Perspektive auf Othello als ein menschliches Wesen ausgeklammert; er agiert ausschließlich in zwei getrennten Rollen, in der des erfolgreichen Generals und in der des glücklosen Ehemanns, die er nicht miteinander verbinden kann. Daher ist es nur konsequent, dass er sich am Ende des Stücks selbst spaltet und den Außenfeind der christlichen Gemeinschaft, den bedrohlich fremden „Turbantürken“ in sich selbst bekämpft. Als Erzähler seiner heroischen Taten hatte Othello am Anfang des Stücks das Herz Desdemonas erobert und als Erzähler seiner eigenen Geschichte gewinnt er am Schluss die Macht über sein öffentliches Bild noch einmal zurück. In einem letzten heroischen Akt stellt der General seine Ehre dadurch wieder her, dass er den Türken in sich selbst ermordet. So besehen ist Othello nicht der ultimative Fremde in diesem Stück, sondern Iago, der Desdemona gegenüber einmal gesteht: „Nein, es ist wahr, sonst nennt mich einen Türken“! (“Nay it is true, or else I am a Turk”; II, 1, 114.)
Desdemona als Anwältin: viel Mitleid, wenig Empathie
In Shakespeares Drama ist Desdemona das Muster an Mitleid und damit der Gegenpol zu Iago. Während jener die anderen Personen des Stücks reihum in einen schlechten Zustand versetzt, hat sie den dringenden Wunsch, den Unglücklichen zu helfen und deren Schicksal zum Guten zu wenden. Mitleid, wie wir bereits aus dem ersten Bericht Othellos wissen, ist ihre zentrale Kompetenz und Tugend.
Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand;
Ich liebte sie um ihres Mitleids willen.
She lov’d me for the dangers I had pass’d,
And I lov’d her that she did pity them. (I, 3, 167 f.)
Nachdem Cassio als Opfer einer Intrige Iagos in eine missliche Situation geraten ist, empfiehlt Iago seinem Opfer, er möge sich doch an Desdemona wenden, die als Mittlerin ein gutes Wort bei seinem General Othello einlegen könne. Desdemona tut nichts lieber, als das zerstörte Vertrauensverhältnis wiederherzustellen und nimmt als Virtuosin in Sachen Mitleid diese maßgeschneiderte Rolle enthusiastisch an, weil Cassio, wie sie betont,
ein Teil von seinem Gram mir ließ,
Mit ihm zu teilen.
...he hath left part of his griefs with me,
I suffer with him (III, 3, 54 f.)
So schlüpft sie in die Rolle der Fürsprecherin, die sich bei einer höheren Instanz für die Belange eines Schuldners einsetzt. Diese Form der Empathie ist eine ganz andere als die romantische Imagination der leidenschaftlichen Zuhörerin. In diesem Fall verkörpert Desdemona nicht die Lesesucht des neuen Buchzeitalters, sondern die zentrale Tugend des christlichen Mitleids, für die die Jungfrau Maria das mythische Vorbild darstellt. Maria ist nach katholischer Lehre die Appellationsinstanz und zentrale Mittlerin zwischen Gott und den sündigen Menschen.20 So ist es auch kein Zufall, dass sich Desdemona auf Maria beruft, wenn sie die Bitte von Cassio annimmt: „Bei der heiligen Jungfrau – ich könnte viel tun“ (“Byrlady, I could do much”; III, 3, 75). Shakespeare zeigt an ihrem Fall, wie Mitleid und Empathie auseinanderfallen und so tragisches bewirken. So fest sie auf dem Boden der Tradition christlichen Mitleids steht, so überspannt, ja grotesk gerät ihre Ausfüllung der Rolle, weil sie dabei jegliches Augenmaß für strategische Empathie mit Othello vermissen lässt. Um Cassios Freispruch zu erwirken, bedrängt sie ihren Gatten und übersieht dabei völlig dessen wachsende Eifersucht. Außerdem zeigt sie keinerlei Feingefühl für den richtigen Zeitpunkt für dieses heikle Thema. Es kommt deshalb ganz so, wie Iago es vorhergesehen hatte: ihre Mitleids-Mission gewinnt die Oberhand über alle anderen Rücksichten:
sei gewiß,
Versprach ich jemand einen Dienst, den leist’ ich
Bis auf den letzten Punkt: ich lass’ ihm keine Ruh’;
Ich wach ihn zahm, schwätz ihn aus der Geduld,
Sein Tisch und Bett soll Beicht’ und Schule sein;
In alles, was er vornimmt, meng ich ihm
Cassios Gesuch: deshalb sei fröhlich, Cassio!
Denn deine Mittlerin wird lieber sterben
Als dich versäumen.
assure thee,
If I do vow a friendship, I'll perform it
To the last article: my lord shall never rest,
I'll watch him tame and talk him out of patience;
His bed shall seem a school, his board a shrift,
I'll intermingle every thing he does
With Cassio's suit: therefore be merry, Cassio;
For thy solicitor shall rather die
Than give thy cause away. (III, 3, 20 ff.)
Soweit ihr Vorsatz, und hier ein Beispiel, wie sie dieses Versprechen konkret in die Tat umsetzt:
Oth. Jetzt nicht, geliebtes Herz, ein andermal.
Des. Doch bald?
Oth. So bald als möglich, deinethalb.
Des. Zum Abendessen denn.
Oth. Nein, heute nicht.
Des. Dann morgen Mittag?
Oth. Ich speise nicht zu Haus;
Die Offiziere luden mich zur Festung.
Des. Nun, morgen Abend? Oder Dienstag Morgen,
Zu Mittag oder Abend – Mittwoch früh?
O nenne mir die Zeit, doch laß es höchstens
Drei Tage sein.
Oth. Not now, sweet Desdemona, some other time. (...)
Des. Shall’t be tonight at supper?
Oth. No, not tonight.
Des. To-morrow dinner then?
Oth. I shall not dine at home (...)
Des. Why then tomorrow night, or Tuesday morn,
On Tuesday noon, or night, or Wednesday morn:
I prithee name the time, but let it not
Exceed three days (III, 3, 56 ff.)
Mit ihrem aufdringlichen Anliegen erinnert Desdemona Othello daran, dass Cassio, der inzwischen von Iago als Rivale aufgebaut wurde, einst selbst als Vermittler für Othellos Liebeswerben tätig war. Damit ist das Vertrauen zwischen den Ehepartnern gänzlich untergraben. Anders als das Mitleid der Jungfrau Maria ist das Mitleid Desdemonas wirkungslos, ja kontraproduktiv und tragisch, weil sie dabei unwissentlich eine Rolle in Iagos Stück spielt, in dem ihre eigenen hehren Ziele pervertiert werden. Iago gelingt es, ihr Mitleid Othello gegenüber in sexuelle Lust umzukodieren. Die Kollision der Ehepartner könnte nicht drastischer ausfallen: Während Desdemona sich anstrengt, ein gutes Wort für Cassio einzulegen, fordert Othello sein Taschentuch als Zeichen der Untreue von ihr zurück. Sie agiert als ‚Engel‘ in Iagos Stück, in dem ihr die Rolle einer ‚Hure‘ vorgeschrieben ist.
Emilias Plädoyer für die Gleichheit der Geschlechter und gegenseitige Empathie
Im letzten Akt kommt es zwischen Desdemona und ihrer Dienerin Emilia zu einem bemerkenswerten Dialog über eheliche (Un-)Treue. Desdemona und Emilia vertreten darin nicht nur zwei gegensätzliche Perspektiven, sondern verkörpern auch eine Konfrontation zweier Klassen, kontrastierender rhetorischer Stilhöhen und inkompatibler literarischer Gattungen. Vor dem pathetischen Ende bietet diese Szene den Zuschauern dabei gleichzeitig einen kurzen Moment des comic relief.
Desdemona, die von Othello soeben als Hure gescholten, öffentlich geohrfeigt und der Untreue angeklagt wurde, singt ein Lied über Untreue. Darin geht es um das Leiden einer Frau, die am Kummer über die Untreue ihres Mannes stirbt. Das Lied endet mit der folgenden Strophe:
*Ich nannt’ ihn du Falscher! was sagt er dazu?
Sing Weide, grüne Weide!
Seh’ ich nach den Mädeln, nach den Buben siehst du.
I call’d my love false; but what said he then?
Sing willow, willow, willow:
If I court moe women; you’ll couch with moe men.*
(IV, 3, 54 ff.)
Der Mann rechtfertigt sich gegenüber der Frau, die die Untreue ihres Mannes beklagt, mit einem Hinweis auf die Promiskuität beider Geschlechter. Desdemona empfindet die unterstellte Ähnlichkeit männlicher und weiblicher sexueller Praktiken als skandalös. Ihre Treue steht damit in deutlichem Kontrast zu Iagos Frauenbild, der sie nicht anders als in der misogynen Tradition der sexuell undomestizierbaren Frau sehen kann: “she must have change, she must!” (II, 1, 352). Desdemona, die hier mit ihrem Latein am Ende ist, bittet Emilia um Auskunft:
Die Männer, o die Männer!
Glaubst du, auf dein Gewissen sprich, Emilia,
Dass wirklich Weiber sind, die ihre Männer
So gröblich täuschen?
O, these men, these men!
Dost thou in conscience think, - tell me, Emilia, -
That there be women do abuse their husbands
In such gross kind? (IV, 3, 59 ff.)
DES: Tätst du dergleichen um die ganze Welt?
EMILIA: Nun, tätet Ihr’s nicht?
DES: Nein, beim Licht des Himmels!
EMILIA: Ich tät es auch nicht bei des Himmels Licht,
Ich könnt es ja im Dunkeln.
DES: Tätst du dergleichen um die ganze Welt?
EMILIA: Die Welt ist mächtig weit; der Lohn wär groß,
Klein der Verstoß.
DES: Wouldst thou do such a deed, for all the world?
EMILIA: Why, would you not?
DES: No, by this heavenly light!
EMILIA: Nor I neither, by this heavenly light.
I might do it as well in the dark.
DES: Wouldst thou do such a thing for all the world?
EMILIA: Whe world is a huge thing, it is a great price,
For a small vice.
(IV, 3, 63 ff.)
In dieser Szene inszeniert Shakespeare einen Zusammenprall des tragischen und des komischen Modus.21 Was im heroischen Genre als eine unvorstellbare Blasphemie gewertet wird, schrumpft in der Komödie zu einem „kleinen Laster“ zusammen. Während es für Desdemona absolut undenkbar ist, dass „es eine solche (untreue) Frau geben könnte“, wissen Emilia und die Zuschauer sehr wohl, dass es viele in dieser Kategorie gibt. Emilia geht allerdings noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie diesen Sachverhalt nicht nur konstatiert, sondern auch offensiv verteidigt: Sie erklärt und entschuldigt die Untreue der Frauen mit der Untreue ihrer Männer. Ihre Logik ist klar: Wenn beide Geschlechter einen Hang zur Untreue haben, dann darf keiner dem Anderen Vorwürfe machen. Sie steigert sich dabei als Proto-Feministin in eine leidenschaftliche Rede über die Gleichheit der Geschlechter und weibliche Selbstermächtigung:
EMILIA:
Wir sind fromm,
Doch nicht von Rachsucht frei. Sie sollen’s wissen,
Wir haben Sinne auch, wir sehn und riechen,
Und haben einen Gaum für süss und herbe,
Wie unsre Männer. Was bezwecken sie,
Wenn sie uns andre vorziehn? Ist es Lust?
Ich denke, ja; treibt sie die Leidenschaft?
Ich denke, ja: ist’s Schwachheit, die sie tört?
Gewiß; und haben wir nicht Leidenschaft?
Nicht Hang zur Lust? Und Schwachheit gleich den Männern?
Drum, wenn der Mann sich treulos von uns kehrte,
War’s seine Bosheit, die uns Böses lehrte.
Why, we have galls: and though we have some grace,
Yet have we some revenge. Let husbands know,
Their wives have sense like them: they see, and smell,
And have their palates both for sweet, and sour,
As husbands have. What is it that they do,
When they change us for others? Is it sport?
I think it is: and doth affection breed it?
I think it doth. Is’t fraily that thus errs?
It is so too. And have not we affections?
Desires for sport? And frailty, as men have?
Then let them use us well: else let them know,
The ills we do, their ills instruct us so.
(IV, 3, 92 ff.)
Während Desdemona gerade ihre Sprache verliert, bricht Emilia in einen Wortschwall aus. Sie tut damit genau das, was Desdemona in diesem Stück nicht zustande bringt: sie artikuliert ihren Standpunkt mit Eloquenz und Nachdruck. Ihre Rede ist ein Plädoyer für Empathie mit Frauen, sie pocht auf die Gleichheit der Geschlechter und stellt die asymmetrische und repressive Politik patriarchalischer Hegemonie in Frage. Wenn beide Geschlechter diese menschliche Schwäche haben, dann müssen Frauen auch dieselben Verfehlungen wie Männern zugestanden werden. Die Gleichheit der Geschlechter basiert bei Emilia auf dem christlichen Konzept der gefallenen Menschennatur und noch nicht auf einem positiven Allgemeinbegriff von der Würde des Menschen. Die Logik ihres Arguments ist damit eine ganz andere, nämlich die der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. In dieser schroffen Form aber kann die Zofe Emilia bei ihrer Herrin Desdemona (und den Zuschauern?) schwerlich Empathie für weibliche Solidarität mobilisieren.
Der Dialog dieser Frauen wird bei Shakespeare zu einem Beispiel dramatisierter Nicht-Kommunikation. Der Grund dafür liegt nicht in den Figuren selbst begründet, sondern in der Tatsache, dass die eine Frau von der anderen nicht nur durch sozialen Rang, sondern auch durch die literarische Gattung getrennt ist. Clevere Strategien und Argumente, wie sie Emilia ersinnt, gehören in die niedere mimetische Form der Komödie mit ihrem Sinn für pragmatischen Realismus. In diesem Genre ist Emilias Logik des common sense unwiderstehlich: was bei den einen toleriert wird, sollte bei den anderen nicht skandalisiert werden. Diese pragmatische Lösung funktioniert allerdings nicht in Desdemonas idealisierter Welt der Romanze. Die Tragödie verlangt nach klar definierten Charakteren, geleitet von absoluten Normen, die nicht verhandelbar sind. Im Gegenteil reproduziert die Tragödie selbst die Werte der Reinheit und Absolutheit, deren Überschreitung mit tragischen Konsequenzen geahndet werden. Can the subaltern speak? Ja, in dieser Szene ergreift sie das Wort, aber sie kann dabei weder auf Verständnis noch Empathie von ihrer Herrin rechnen. Und diese muss mit bösen Folgen rechnen: ihr Ehemann Iago wird sie umbringen.
Schluss
Es ist an der Zeit, so schreibt Elizabeth Gruber, „die von der Literaturwissenschaft zu Grabe getragene Empathie wieder auszugraben und zu neuem Leben zu erwecken!“22 Wie ich zu zeigen hoffte, kann die Frage nach Empathie-Verhältnissen neue Perspektiven eröffnen und Licht auf die Modellierung der Emotionen im Drama werfen, sowohl was die Beziehung zwischen den Charakteren wie die zwischen literarischen Figuren und den Zuschauern angeht. Die imaginative, emotionale und moralische Beteiligung der Zuschauer an diesem Drama bedarf besonderer Aufmerksamkeit, denn es ist das lebendige Band, das die Bühnenhandlung mit der gegenwärtigen Welt und ihren zeitgenössischen Fragen, Werten und Problemen verbindet. Ja natürlich ist Shakespeare, wie Jan Kott betont hat, unser Zeitgenosse, aber wir sollten nicht vergessen, dass diese Zeitgenossenschaft auf unserer Begegnung mit Stücken gründet, die jeweils von prekären, impliziten und weitgehend unter-theoretisierten Empathieprozessen gesteuert wird. Wir haben solche Prozesse in verschiedenen Kontexten und Formen untersucht:
- als Einbildungskraft, die Abgründe der Fremdheit überspringt und Brücken über kulturelle Differenz bauen kann (am Beispiel Desdemona)
- als stellvertretende Introspektion, die es einer Person ermöglicht, die Gedanken einer anderen zu lesen und deren Handlungen vorherzusehen (am Beispiel Iago)
- und als Mitleid in der Form der Intervention für die Zurückgesetzten und Benachteiligten (am Beispiel Desdemona).
Wir haben dabei auch gesehen, dass Empathie keine stabile Ressource ist. Sie ist im Gegenteil ein dünnes Band, das leicht zerreißt, wobei Vertrautheit plötzlich in Fremdheit umschlagen kann. Sie ist immer auf Imagination angewiesen, aber diese muss entwickelt und kultiviert werden, wenn sie eine ethische Dimension gewinnen soll. Sonst oszilliert Empathie wie im Falle Othellos zwischen Nähe und Ferne bzw. zwischen den beiden Polen der Fremdheit als Faszination einerseits und Terror andererseits. Solche abrupten Wechsel emotionaler Reaktionen vollziehen sich oft jenseits des Bewusstseins und folgen einem kulturellen Subtext tief verinnerlichter Bilder. Die Untersuchung der Empathie in Shakespeares Drama ermöglicht es uns, das Ineinandergreifen zwischen Bühnengeschehen und gegenwärtigen Emotionen nicht nur bewusster zu erleben, sondern dabei auch genauer zu beobachten. Auf diese Weise kann sich im Zusammenspiel von historischer Interpretation und zeitgenössischem Selbstverständnis ein neuer Reflexionsraum öffnen.
- Der Beitrag ist die Schriftfassung von Aleida Assmanns Vortrag, den sie im Rahmen des CAS-Schwerpunktes „Empathie“ im Oktober 2023 am CAS LMU gehalten hat. ↩
- Siehe die Videos der CAS-Vortragsreihe „Arts and Skills of Empathy“ unter cas.lmu.de. ↩
- Samuel Bowles und Herbert Gintis, A Cooperative Species: Human Reciprocity and Its Evolution, Princeton 2013. ↩
- Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010. ↩
- Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation: Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt a. M. 2010. ↩
- Amartya Sen, The Idea of Justice, Cambridge / M.A. 2009. ↩
- Doris Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend – Bindung, Empathie, Theory of Mind, Stuttgart, 2011. ↩
- Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt a.M., 2009. Dominik LaCapra betont die Rolle der Imagination als einer wichtigen Ressource. Mit seinem Begriff „empathetic unsettlement“ verweist er auf die affektive Reaktion, die in der Anteilnahme am Trauma der Anderen enthalten ist. Dominik LaCapra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore, 2001. ↩
- Stanley Cohen, States of Denial. Knowing about Atrocities and Suffering, Cambridge, 2001. ↩
- Aus dem Drama wird nach folgenden Ausgaben zitiert: Othello, hg. v. M. R. Ridley, The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, London und New York: Routledge 1993 und Othello, der Mohr von Venedig, übers. von Wolf Grafen Baudissin, Berlin und Leipzig, o.J. (Tempel Klassiker, Shakespeares Werke englisch und deutsch). ↩
- Desdemona unterscheidet sich hier deutlich von Julia, Portia, Miaranda und anderen Liebenden in Shakespeares Dramen, die alle mit dem ersten Blick ihrem Geliebten anheimfallen. Desdemonas Liebe wird erst durch wiederholtes Zuhören entzündet. ↩
- William B. Yeats, A Drinking Song (1910) in: Horst Meller, Rudolf Sühnel, Hgg., British and American Classical Poems, Braunschweig, 1966, 12. ↩
- Diese Einschätzung wird von Iago mehrmals im Stück wiederholt. ↩
- Karl Heinz Göller, Romance and Novel: Die Anfänge des englischen Romans, Regensburg 1972. ↩
- Die Frage, ob Ähnlichkeit eine Grundlage für Empathie sei, stellt Martha Nussbaum in ihrem Buch Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge, 2001, 316. ↩
- Der Vermittler als Dritter im Bunde lässt das Liebesverhältnis zwischen Othello und Desdemona als fragil erscheinen. Cassio hatte diese prekäre Aufgabe vor der Ehe, nach der Ehe wird er zum Protegé Desdemonas, die sich zu seinem Anwalt macht. So oder so verkörpert er eine ‚Sollbruchstelle‘ innerhalb des Liebesbundes. ↩
- Othellos Minderwertigkeitskomplexe werden in einem Monolog explizit von ihm ausgesprochen: III, 3, 260 ff. ↩
- Martha Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001, 328. ↩
- Heinz Kohut, How Does Analysis Cure? Hg. v. Arnold Goldberg, Chicago, 1984, 82. ↩
- Maria die Mittlerin ist die Schlüsselfigur gelebter religiöser Praxis des Mittelalters. Ihre besondere Macht besteht in der Vermittlung zwischen himmlischer und irdischer Sphäre. Sie verkörpert Demut und vor allem Mitleid für die Sünder, für die sie als ‚Interzessorin‘ eintritt. Sie ist damit auch die Anwältin für Milde im göttlichen Gericht. Katharina Mertens Fleury, „Maria mediatrix – mittellos mittel aller súnder“, Das Mittelalter, Vol. 15, No. 2, (2010), 33–47. ↩
- Dieser Clash zum Thema ehelicher Untreue hat sein Pendant in einem Dialog zwischen Othello und Iago. Was im tragischen Modus der ultimative Ausnahmezustand ist, ist im komischen Modus eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Othello: A horned man’s a monster and a beast. Iago: There’s many a beast then in a populous city, And many a civil monster. (IV, 1, 62-64). ↩
- Elizabeth Gruber, „Practical Magic: Empathy and Alienation in Harlem Duet“, Literature Interpretation Theory 19 (2008), 346–366; 347. ↩