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Empathie: Fragmentarische Einführung in ein weites Forschungsfeld

Friedrich Vollhardt, 25 January 2022

Eine Einleitung in die mit dem Begriff der Empathie verbundenen Probleme ist eine Herausforderung.1 Was lässt sich in wenigen Sätzen zu diesem kaum überschaubaren Komplex in der europäischen Denk-, Philosophie- und Religionsgeschichte sagen, und zwar im Blick auf Literatur und Kunst? Man wird nur andeuten können, was hier an Fragestellungen weder entfaltet noch durchdrungen werden kann.

Allenfalls ließe sich der Versuch einer solchen Hinführung abkürzen und das Problem der Relevanz beseitigen, indem man auf die derzeit lebhaft diskutierten Ansätze der Evolutionary Aesthetics verweist. Die menschlichen Verhaltensprogramme lassen sich nun einmal nicht von den in der Evolutionsbiologie begründeten Voraussetzungen abkoppeln, auch wenn es von diesen elementaren Dispositionen bis zu höheren Leistungen der menschlichen Kognition und Emotion, man denke an den Aufbau von Petrarcas Canzoniere oder an Bachs Kunst der Fuge, ein sehr weiter Weg ist; vermutlich enthalten diese hochkomplexen Kunstwerke keine für das Überleben unserer Gattung nützlichen Informationen − oder vielleicht doch?

Mit Karl Eibl habe ich häufiger über diese Fragen diskutiert, übrigens stets mit einem skeptischen Vorbehalt. Dabei ist zunächst gar nicht zu bestreiten, dass der Mitmensch für jeden einzelnen ein „Umweltereignis von herausgehobener Bedeutung“2 ist, weshalb es nicht schaden kann, dessen kulturelle und soziale Umstände zu kennen, kurz sein Verständnis von Realität einschätzen zu können. Die Grundannahmen dafür nennt man Theory of mind. Ihre Erforschung fällt in den Bereich der Entwicklungspsychologie, etwa bei der Untersuchung von Verstellungs- und Nachahmungsspielen, die sich bei Kindern bereits sehr früh beobachten lassen: „Der ‚Schauspieler‘ weiß, was in der dargestellten Person vorgeht, und indem er wie auch die Zuschauer und Mitspieler wissen, dass hier gespielt wird, bestätigen sie ein gemeinsames Wissen über vergegenständlichtes Wissen mit den dazugehörigen Emotionen.“3 Bei Kindern ist das zwar nur im Ansatz zu beobachten, aber aus ihrem Verhalten lässt sich erschließen, welche Einsichten Theaterautoren seit Jahrhunderten aus dem Studium des menschlichen Verhaltens gewonnen haben. Wir benutzen diese Informationen übrigens auch, um unser Gegenüber zu täuschen und zu betrügen. Für diese „Kehrseite der Kooperation“ finden sich zahlreiche Belege bei unseren engsten Verwandten im Tierreich, die zeigen, dass mit einer zunehmenden Öffnung der Verhaltensprogramme auch die Notwendigkeit steigt, das Handeln der Artgenossen zu berechnen. Und hier kommt nun die Empathie ins Spiel. Vielleicht bezeichnet sie eine ähnliche Kompetenz, „nur von einer anderen Seite, nicht von der kognitiven, sondern von der emotiven her.“4 Diese Fähigkeiten lassen sich ebenfalls bei Primaten beobachten, etwa bei verwundeten Schimpansen, die von Artgenossen gepflegt werden, was man – bringt man unser eigenes Erleben ins Spiel – mit der Fähigkeit zum Mitleiden vergleichen kann. Jedenfalls scheint die Empathie zu den von der Evolution begünstigten Verhaltensweisen zu gehören.5

Grooming als Geste der Empathie: zwei Schimpansen im Leintalzoo.

Damit wäre ich beim Thema und zurück bei meiner Skepsis. Was kann man aus unserer biologischen Grundausstattung, zu der, wie bemerkt, auch die Empathie gehört, für die Literatur und Kunst nicht nur des Abendlandes ableiten? Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik werden solche Funktionshypothesen erörtert und in entsprechende Forschungsprogramme übersetzt, deren Reichweite und Modellierungskraft jedoch notwendig begrenzt bleiben, siehe oben: Petrarca und Bach.

Wie also weiter? Naheliegend wäre, die große Bedeutung der Rhetorik für die Lehre von den Emotionen und deren Erregung zu betrachten und nach ihrem Verhältnis zu kognitivistischen Theorien6 zu fragen; das muss ich hier ganz außeracht lassen. Ebenso vielversprechend erscheint ein Blick auf die philosophischen Affektenlehren im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit, da hier begriffliche Unterscheidungen eingeführt und ein Theorieraum geschaffen wurden, die für unser gegenwärtiges Nachdenken über Empathie bestimmend geblieben sind. Dominik Perler hat für eine solche Emotionsforschung die Operationsbasis geschaffen und diese gegenüber den empirischen (auch evolutionstheoretischen) Methoden abgegrenzt, um zu einer Klärung der Grundbegriffe beizutragen.7 Denn im Unterschied zu der neueren Theoriebildung zeigen die historischen Konzepte nicht nur ein Interesse an der Frage, „wie Emotionen als natürliche Zustände oder Prozesse“ entstehen, sondern auch für die daran anschließende Frage, „wie wir mit den Emotionen umgehen können, ja umgehen sollen“8 ; die Naturforschung lässt sich nicht ohne eine Handlungstheorie entwickeln, die sich dann notwendig mit moralphilosophischen Überlegungen verbindet. Die Trias Natur / Handlung / Moral erscheint mir geeignet, um noch einmal neu anzusetzen und dabei den Begriff der Distanz einzuführen, der mir für das Problemfeld zentral zu sein scheint − nicht im Sinne der für unseren Umgang mit Fremden im Alltag unverzichtbaren emotionalen Neutralität, sondern im Blick auf die moralische Natur eines Menschen, der in Gesellschaft lebt.

In Honoré de Balzacs Roman Le Père Goriot aus den Jahren 1834/35 sieht sich Rastignac, ein verarmter Aristokrat aus der Provinz, dazu veranlasst, eben über dieses „Leben in der Gesellschaft nachzudenken“, wozu er sich mit seinem Freund Bianchon austauscht:

„Mich quälen schlimme Gedanken.“
„Was für welche denn? Gedanken verheilen schon wieder.“
„Und wie?“
„Indem man ihnen nachgibt.“
„Du lachst, ohne zu wissen, worum es geht. Hast du Rousseau gelesen?“
„Ja.“
„Erinnerst du dich an die Stelle, wo er den Leser fragt, was er täte, wenn er reich werden könnte, indem er allein durch seine Willenskraft, ohne sich aus Paris wegzurühren, in China einen alten Mandarin tötete?“
„Ja.“
„Nun, und?“
„Pah! Ich bin schon bei meinem dreiunddreißigsten Mandarin.“
„Mach keine Scherze. Also, wenn du den Beweis hättest, daß so etwas möglich ist und daß du nur mit dem Kopf zu nicken brauchtest, würdest du es tun?“9

Der Freund verweigert die Zustimmung, wobei er sich auf „seine innere Erfahrung“10 beruft, um für das Leben des Chinesen zu plädieren, auch ohne dass persönliche Nähe dafür gegeben sein müsste. Eine denkbare Disputation über Recht und Moral wird mit dem Verweis auf die dem Menschen eigene Empathie abgebrochen. Doch gilt diese Berufung auf die humane Natur auch bei zunehmenden Distanzen in einer Welt, die dem Druck der Globalisierung ausgesetzt ist? Balzac macht darauf aufmerksam, dass es in entwickelten bürgerlichen Gesellschaften zunehmend schwer wird, sich über scheinbar fraglos geltende Normen zu verständigen, wenn „unsere moralische Gleichgültigkeit“11 wächst.

Daguerreotypie Honoré de Balzacs, aufgenommen von Louis-Auguste Bisson, 1842.

Bemerkenswert ist, dass Balzac seinen Roman dem Naturforscher Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844) gewidmet hat, dessen Abstammungslehre der modernen Biologie vorausgeht, was Charles Darwin anerkannte, der den französischen Gelehrten (der übrigens auch Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war) als einen Ideengeber für seine dann vollständig ausgearbeitete Theorie der Evolution zitierte. Die Parallelen zwischen der naturgeschichtlich inspirierten Comédie humaine Balzacs12 und heutigen Ansätzen der Emotionsforschung ließen sich vermutlich weiter ausziehen.

Noch interessanter als dieser Aspekt der Erzählung ist der Auftakt des Gesprächs. Gemeint ist die uns heute etwas unvermittelt erscheinende Frage: „Hast du Rousseau gelesen?“ Hierbei handelt es sich um eine irreführende Fährte, eine bewusst falsche Zuschreibung, da sich bei Rousseau kein Gedankenspiel findet, das mit der Parabel des chinesischen Mandarins zu vergleichen wäre.13 Was Rousseau dagegen hinterlassen hat, ist eine ausformulierte Theorie des Mitleids. Das lange 18. Jahrhundert war, wie Balzac zu verstehen gibt, eine Epoche, in der intensiv das Pro und Contra einer Ethik erörtert wurde, in der Sympathie und Empathie, Soziabilität und Moral sense Schlüsselbegriffe bildeten, für die man eine Begründung in der menschlichen Natur suchte. Diese Legitimation war inzwischen problematisch geworden, da die neuere Histoire naturelle nach einer komplexeren Anschauung der Realität verlangte.

Die von Balzac gelegte Rousseau-Spur führt in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts zu dem Mitleidsethiker Arthur Schopenhauer, für den die Erkenntnis des Eigenen im Anderen ein Motiv des empathischen Handelns bildete, auch wenn sich dieser Altruismus nicht mehr, ähnlich wie bei Balzac, auf die zwar noch immer maßgeblichen, nun aber skeptisch betrachteten Entwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts berufen konnte:

„Man hat die Frage aufgeworfen was 2 Menschen, die in der Wildniß jeder ganz einsam aufgewachsen wären, und sich zum ersten Mal begegneten, thun würden: Hobbes, Puffendorf, Rousseau haben sie entgegengesetzt beantwortet: Puffendorf glaubte sie würden sich liebevoll entgegenkommen; Hobbes hingegen feindlich; Rousseau, sich schweigend vorbeigehn.
Alle 3 haben Recht und Unrecht: grade da würde sich die unermeßliche Verschiedenheit angeborner moralischer Disposition der Individuen, in so hellem Lichte zeigen, daß hier gleichsam der Maaßstab und Gradmesser derselben wäre. Denn Menschen giebt es, in denen der Anblick des Menschen sogleich ein feindliches Gefühl aufregt, indem ihr Innerstes den Ausspruch thut ‚Nicht-Ich!‘ − und Andre giebt es, bei welchen jener Anblick sogleich freundliche Theilnahme erregt; ihr Inneres sagt ‚Ich noch Mal!‘ − Dazwischen liegen unzählige Grade. − Aber daß wir in diesem Hauptpunkt so grundverschieden sind, ist ein großes Problem, ja ein Mysterium.“14

Mit Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf werden am Beginn zwei Systemdenker genannt, die aufgrund ihrer neuen Argumentations- und Darstellungsformen für die Durchsetzung des profanen ius naturae gesorgt haben. Die Naturrechtslehre wird am Ende des 17. Jahrhunderts zu einer aus Fundamentalsätzen hergeleiteten, axiomatisch verfahrenden Wissenschaft, deren Erkenntnisse von ähnlicher Sicherheit sein sollten wie die in den mathematisch-physikalischen Disziplinen der new science beschriebenen Naturgesetze. An die Stelle der tradierten Lehrformen treten die keinem historischen Wandel unterworfenen Konstanten anthropologischen Wissens und die daraus abgeleiteten Gesellschaftsmodelle.15 Nicht die Lehre der Kirche oder der Wille des Gesetzgebers, sondern die Natur des Menschen bildet den Ausgangspunkt der Systembildung. Der Erfolg der neuen Doktrin basierte auf diesem Ansatz: „To discover natural law, we must study human nature.“16

Doch über die aus einem hypothetischen Naturzustand des Menschen abgeleiteten Prämissen der Theoriebildung konnte keine Einigung erzielt werden. Der Streit drehte sich ausgerechnet um die Empathiefähigkeit eines Individuums, das den Naturmächten ausgeliefert und auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist. Dessen Verhalten in der Gesellschaft konnte eher optimistisch (Pufendorf), entschieden pessimistisch (Hobbes) oder als indifferent (Rousseau) eingeschätzt werden. Im 19. Jahrhundert erschien die Fähigkeit zum empathischen Handeln dann nicht mehr als eine – wie auch immer zu bewertende − Voraussetzung der Rechtsdeduktion, sondern als kaum zu entschlüsselnde, in hohem Maße erklärungsbedürftige Naturanlage des Menschen, kurz als ein „Mysterium“ (Schopenhauer).

Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die Mandarinparabel vielfach weitererzählt worden, wobei sich der nihilistische Grundzug der Erzählung verstärkte. Die Verachtung des altruistisch-selbstlosen Handelns gipfelt dann im Werk Friedrich Nietzsches, das die dunklen Seiten der Empathie17 beleuchtet. Das empathische (Mit-)Erleben ist für Nietzsche keine Tugend, sondern eine – mit einer Anspielung auf Spinoza – „Schwäche, wie jedes Sich-verlieren an einen schädigenden Affect.“ Auch Nietzsche wandelt die Fiktion des Naturzustandes ab, um die negativen Folgen des Mitleids zu erklären: „Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an’s Bemitleidetwerden: […] ein verächtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewährt diess keinen Genuss.“ Eine solche Befriedigung findet „die Seele des Wilden“ umgekehrt im kriegerischen Handeln, etwa bei der Tötung eines gleichrangigen Feindes; allein ein heroischer Akt kann das dem Mitleiden weit überlegene Gefühl der „Bewunderung“18 hervorrufen. Aus degenerierter Willensschwäche erwächst dagegen nur eine Sklaven-Moral, die ihren Ausdruck im Ressentiment findet. Nietzsche versteht diese Prägung als Ergebnis eines historischen Prozesses, dessen Ursprung er in der jüdisch-christlichen Tradition sucht. Seine Genealogie der Moral sollte zeigen, aus welchen Motiven sich die abendländischen Vorstellungen von Empathie und Mitleid entwickelten. Eine gewichtige Kritik war aus dieser Konstruktion jedoch nicht abzuleiten, da die Präferenzen der Elenden und Ohnmächtigen noch keinen Einwand gegen die Prinzipien von deren Moral lieferten: „Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die genealogische Moralkritik die Moral schlechthin zu Fall bringt.“19 Bei der Sichtung und Auswahl der historischen Fakten wählte Nietzsche ein „‚tempo feroce‘“, seine Annahmen blieben daher „in geradezu grotesker Weise voraussetzungsreich“, er „dekretiert bloß, was er hätte einsichtig machen müssen.“20 Dennoch entfaltete seine Moralkritik eine beachtliche Wirkung, die dazu beitrug, dass sich die Einschätzung und Bewertung emotionaler Nähe, für welche die Begriffe Mitleid und Empathie stehen, veränderte.

Bei der Gegenüberstellung von Mitleid und Bewunderung rekurriert Nietzsche auf Debatten des 18. Jahrhunderts. Bekannt ist die Tragödienformel, die Gotthold Ephraim Lessing 1756 in einem Brief entwickelt hat: „Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung des Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. […] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden der aufgelegteste.“21 Was von hoher Evidenz zu sein scheint, entspricht jedoch eher einer Behauptung als einer Begründung. Moses Mendelssohn antwortete auf diesen Brief daher mit einem entschiedenen „nein!“ und dem Verweis auf die Bewunderung, die als höhere Empfindung das Mitleid einschließt.22 Da Lessing den Heroismus ablehnte, wiederholt er sein Argument noch einmal, wobei er den Effekt der Mitleidserregung deutlich von der Moralität der Handlung trennt. Da alles auf die Wirkung ankommt, muss weder Tugend gezeigt noch die Vernunft bemüht werden; das moralische Urteil wird der rationalen Erkenntnis entzogen.

Ein interessanter Punkt. Lessing fragt nach menschlichen Wahrnehmungs-, Gefühls- und zugleich Urteilsmustern, die auch heute noch „geeignete Kandidaten für evolutionstheoretische Reinterpretationen sein könnten.“23 An die von Rousseau, Hume oder Lessing formulierten Überlegungen lässt sich noch immer anknüpfen, auch im Widerspruch, wie die Studie von Käte Hamburger zeigt.

Käte Hamburger, Das Mitleid. 1. Auflage, Klett-Cotta. Stuttgart 1985.

Die in den älteren Konzeptionen vorausgesetzte Unmittelbarkeit des empathischen Empfindens erscheint Hamburger fragwürdig, da das Mitleidsphänomen für sie von einem „Moment des Unpersönlichen“ geprägt ist. Die Gefühle gegenüber den uns nahestehenden Menschen sind dagegen weitaus elementarer (Angst, Trauer, Sorge), während Mitleid hier eigentlich „nicht in Erscheinung tritt.“24 Zu erkennen ist vielmehr – man denke noch einmal an den chinesischen Mandarin − eine „Distanzstruktur“, die eine „Erklärung für die extrem divergierenden Erscheinungsformen und Auffassungen“25 des empathischen Verhaltens liefern soll. Ein solches Gefühl kann zwar zu einem karitativen Handeln anleiten, dem jedoch keine ethische Qualität zukommt, „weil es für das barmherzige Tun irrelevant ist“ oder sogar „einer Mitleidslosigkeit etwa solcher Art abgerungen sein kann: ‚Ich habe kein Mitleid mit dir, da du dein Mißgeschick selbst verschuldet hast, aber ich will dir trotzdem helfen‘“.26

Doch die Motivlage des Handelnden ist damit noch nicht schlüssig erklärt. Wenn diese weder aus religiösen oder kulturellen Konventionen noch aus einer Ethik resultiert, die auf Universalisierung der Normen setzt, worauf gründet sie dann? Kann sich das Gefühl nicht doch, wie Lessing meint, zu einer Disposition verfestigen? Man wird Hamburger im Blick auf das mit dem Stichwort Distanz beschriebene Problem zustimmen können, „während ihre Analyse, daß Mitleid per se eine unpersönliche Struktur habe, so nicht zutrifft.“27 Auf die bereits von Rousseau und Lessing erkannte Vielschichtigkeit des Mitleidsphänomens lässt sich Käte Hamburger nicht ein, was zu bedauern ist, da die im 18. Jahrhundert gestellten und seither ungelöst gebliebenen Fragen keineswegs obsolet geworden sind. Nicht zum Abschluss, sondern zur Weiterführung der Untersuchungen sei daher einer der größten Denker dieses Jahrhunderts zitiert, Immanuel Kant. Er hat die Problematik, die ich hier nur andeuten konnte, nach dem Zeugnis von Nachschriften aus seinen Vorlesungen für eine „der schwierigsten in der gesamten Philosophie gehalten. ‚Man soll das Gute durch den Verstand erkennen, und doch davon ein Gefühl haben. Das ist etwas, was man nicht recht verstehen kann.‘ ‚Urteilen kann der Verstand wohl, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, den Willen zu bewegen, das ist der Stein der Weisen‘.“28

Vielleicht ist dieser in der Empathie zu finden.

  1. Dieser Blog-Beitrag geht auf eine Veranstaltung im Rahmen der Vortragsreihe "Arts and Skills of Empathy" zurück, die im Wintersemester 2021/22 am Center for Advanced Studies stattgefunden hat. Die Videos der Veranstaltungen finden sich hier.
  2. Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004, S. 249.
  3. Ebd., S. 250.
  4. Ebd.
  5. Die Rede von empathischen Empfindungen im Sinne emotionaler Erfahrungen sollte im Rahmen evolutionstheoretischer Ansätze allerdings vermieden werden; vgl. Katja Mellmann: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006, S. 115: „Empathie ist selbst keine Emotion, sondern ein wichtiger Submechanismus in einer Reihe von sozialen Adaptationen kognitiver und emotionaler Art.“
  6. Umfassend dazu Christof Rapp im Kommentar zu seiner Edition der aristotelischen Rhetorik: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung: Band 4, Zweiter Halbband. Berlin 2002, S. 559–570.
  7. Was die Explikation zentraler Termini betrifft, sehen sich die empirischen Analysen mit einer Reihe von Problemen konfrontiert (Einheit, Struktur, Zuschreibung, Kategorisierung, Zurechnung), für die eine historische Perspektivierung Lösungsstrategien anbieten kann; vgl. Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670. Frankfurt am Main 2011, S. 24–34.
  8. Ebd., S. 38.
  9. Honoré de Balzac: Vater Goriot. Übersetzt und herausgegeben von Elisabeth Kuhs. Stuttgart 1988, S. 157.
  10. Ebd., S. 158.
  11. Carlo Ginzburg: Einen chinesischen Mandarin töten. Die moralischen Implikationen der Distanz. In: Ders.: Holzaugen. Über Nähe und Distanz. Aus dem Italienischen von Renate Heimbucher. Berlin 1999, S. 241–260, hier S. 250.
  12. Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1978, S. 124ff.
  13. Worauf der Autor damit abzielt, hat Henning Ritter diskutiert: Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid. München 2004, S. 17ff.; ich mache im Folgenden einen alternativen Vorschlag.
  14. Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden. Band 3: Berliner Manuskripte (1818–1830). Hg. von Arthur Hübscher. München 1985, S. 628 (Hervorhebungen nicht berücksichtigt).
  15. Weitere Hinweise bei Friedrich Vollhardt: Die Natur des Menschen und die Konstruktion der politischen Ordnung. In: Menschennatur und politische Ordnung. Hg. von Andreas Höfele und Beate Kellner. Paderborn 2016, S. 259–268 sowie Abb. 30–34; zur Wirkung der neuen Wissenschaftsauffassung in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts ausführlicher Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008.
  16. Jerome B. Schneewind: Art. Natural Law. In: A New History of German Literature. Hg. von David E. Wellbery. Cambridge 2004, S. 325–329, hier S. 326.
  17. Damit wird auf den Titel eines Buches von Fritz Breithaupt angespielt, das 2017 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist; zu dessen Nietzsche-Interpretation vgl. die Rezension von Ulrich Kronauer, in: Arbitrium 37 (2019), S. 10–14.
  18. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881). In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Band 3. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980, S. 9–331, hier S. 128f. (Hervorhebungen nicht berücksichtigt).
  19. Winfried Schröder: Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 38.
  20. Ebd., S. 43, 47, 49.
  21. Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1754–1757. Hg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 671.
  22. Ebd., S. 676. – Zur Bedeutung Rousseaus für die deutsche Mitleidsdiskussion in der Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 142ff.
  23. Winfried Menninghaus: Kunst als „Beförderung des Lebens“. Perspektiven transzendentaler und evolutionärer Ästhetik. München 2008, S. 9.
  24. Käte Hamburger: Das Mitleid. Stuttgart 1985, S. 104.
  25. Ebd., S. 106.
  26. Ebd., S. 124.
  27. Hilge Landweer: Resonanz oder Kognition? Zwei Modelle des Mitgefühls. Zu Käte Hamburgers Analyse der Distanzstruktur des Mitleids. In: Ethik und Ästhetik des Mitleids. Hg. von Nina Gülcher und Irmela von der Lühe. Freiburg 2007, S. 47–66, hier S. 59; vgl. auch S. 66: „Das Mitleid als episodisches Gefühl kann zwar nicht universalisiert werden, doch kann selbstverständlich eine Haltung des Sich-hinein-Versetzens auch in sehr entfernte andere kultiviert werden, und dies ist eine Bedingung dafür, sich moralisch verhalten zu können. Sympathiegefühle können metaphorisch als eine Art Wahrnehmungsorgan für die Situation und für die Emotionen anderer angesehen werden, sie sind die Basis für Sozialität, insofern sie die Fähigkeit zu einem emotionalen Perspektivwechsel voraussetzen, und dies ist für die Person und ihre moralische Entwicklung und damit auch für die gesamte Kultur von enormer Bedeutung.“
  28. Zit. nach Dieter Henrich: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt am Main 2016, S. 110.
Friedrich Vollhardt, Empathie: Fragmentarische Einführung in ein weites Forschungsfeld, CAS LMU Blog, 25 January 2022, https://doi.org/10.5282/cas-blog/35
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